Erstellt am: 2. 1. 2013 - 15:24 Uhr
Müssen wir jetzt heiraten?
Wer etwas über Familienverhältnisse erfahren will, über Zwänge, Druck und Untergang, der kann Thomas Manns "Buddenbrooks" lesen oder, etwas weniger gewaltig und bisweilen zumindest amüsanter: "Verstand und Gefühl" von Jane Austen. "Familie" ist im 1811 erschienen ersten Roman von Austen tatsächlich das Keyword: Es tauchen Tanten und Halbgeschwister auf, uneheliche Kinder und entfernte Cousins. Immerhin in Randbemerkungen und hinter vorgehaltener Hand getuschelten Erzählungen.
Vater, Mutter, Kind und kompliziertere Familiengeschichten: FM4 widmet sich in den Weihnachtsferien den Familien in der Literatur. Nicht klassischen Familien, sondern Familienklassikern bzw. Klassikern, in denen die Familie eine wichtige Rolle spielt.
Im Zentrum stehen die verwitwete Mrs. Dashwood und ihre beiden Töchter Elinore und Marianne. Elinore und Marianne müssen - nachdem der verblichene Vater kaum (im Verhältnis-System "mittlerer Landadel/oberes Bürgertum") etwas an Vermögen hinterlassen hat - verheiratet werden, um immerhin einen gewissen Wohlstand aufrechtzuerhalten und für die Zukunft zu sichern. So finden sich Elinore und Marianne im Widerstreit zwischen Liebe und Emotion einerseits und Standesdünkel und finanziell motivierten Erwägungen andererseits wieder.
"Die Familie Dashwood war schon seit langem in Sussex ansässig. Die Größe ihres Besitztums war beträchtlich, und ihr Wohnsitz befand sich in Norland Park, in der Mitte ihres Gutes, wo sie seit vielen Generationen ein so achtbares Leben geführt hatten, dass sie im Bekanntenkreis ihrer Umgebung in hohem Ansehen standen."
Junge Frauen und ihr Versuche, aus den ihnen angedachten Rollen auszubrechen - das ist ein - wenn nicht gar das zentrale Thema bei Jane Austen. Der Kampf gegen gesellschaftliche Normen und das Ausprobieren einer frühen Idee von so etwas wie "Selbstverwirklichung". Die titelspendenden Wörter "Verstand" und "Gefühl" werden durch die vernünftig und kühl, sozusagen den Umständen "angemessen" agierende Elinor einerseits und die impulsive Marianne andererseits verkörpert.
Verstand und Gefühl
Nach heutigem Verständis mögen Ausgangslage und Konstellation von "Verstand und Gefühl" vielleicht etwas gar holzschnittartig wirken und der Konflikt zwischen den Motiven "Vernunft" und "Träumerei" zu stark kontrastiert und überdeutlich daherkommen - tatsächlich aber hat Austen mit ihrem zurecht als Klassiker amtlich verbrieften Roman das Plot-Fundament für dreihundert (mögliche) gute und auch schlechte Rom-Coms gelegt. Im Rückspiegel betrachtet war so die Besetzug von Ang Lees Verfilmung (zu Deutsch: "Sinn und Sinnlichkeit") des Stoffes mit Emma Thompson, Kate Winslet, Greg Wise und vor allem good ol' Hugh Grant ein echter Glücksgriff - das männliche Personal des Romans ist oft von Geckenhaftigkeit und Eitelkeit gezeichnet.
"Verstand und Gefühl" ist zweihundert Jahre nach seinem Erscheinen immer noch ein Buch, aus dem allerlei "moderne" Ideen herausgelesen werden können. Ein Buch, das tief in der Seele schürft und Verlangen, Schmerz und Eifersucht beleuchtet - dabei aber immer wieder - und ganz wesentlich - von einem spröden Humor lebt, der aus dem Aufeinanderprallen unterschiedlicher Weltsichten entsteht. Möglicherweise ist "Verstand und Gefühl" noch nicht so flott und leichtfüßig wie Austens spätere Arbeiten "Emma" und "Stolz und Vorurteil". In der Abbildung dieser komischen magischen Wellen, die zwischen den entgegengesetzten, aber ach! doch so nahe beieinanderliegenden Gemütszusänden "Trübsal" und "Euphorie" durch den Körper gehen, ist der Roman meisterlich.
Aus "Verstand und Gefühl" kann man die bittere Wahrheit lernen, dass man sich manchmal eben - na gut - mit dem Leben arrangieren muss, Kompromisse eingehen - und dann vielleicht trotzdem glücklich werden kann. Eine etwas unbefriedigende Erkenntnis vielleicht, dass zwischen Verstand und Gefühl, die Lösung irgendwo bei wechelseitiger Befruchtung der beiden Pole und in der Mitte liegt. Man muss ja nicht gleich dem unsäglichen YOLO das Wort reden, dass aber die Vernunft - wenn auch nur zu einem Teil - siegen soll, ist nicht unbedingt die Vorstellung, die einen spätabends unter der Decke romantisch stimmt und den Bauch kribbeln macht.
"Marianne Dashwood war ein außerordentliches Schicksal bestimmt. Sie war dazu bestimmt, die Verkehrtheit ihrer eigenen Überzeugungen zu entdecken und durch ihr Verhalten ihren liebsten Grundsätzen zuwiderzuhandeln."