Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "Nothing But No Time"

Thomas Edlinger

Moderiert gemeinsam mit Fritz Ostermayer "Im Sumpf".

30. 12. 2012 - 21:00

Nothing But No Time

Ein paar Notizen zum Jahresrückblick und - soviel Anachronismus muss sein - unsere Bestenlisten.

"Bird On a Wire", die Doku über eine Konzerttournee von Leonard Cohen, zeigt den Auftritt als Krise. Die Verstärker wollen nicht, wie sie sollen, und der sensible Troubadour will nicht nur deshalb oft nicht vor das Publikum. Einmal verlässt er während des Konzerts die Bühne und rasiert sich im Backstageraum. Die Leute draußen aber warten, bis ihr Messias wieder im Licht erscheint. Cohen und seine magischen Lieder sind ihnen so wichtig, dass sie die Zeit vergessen. Die Szene spielte sich 1972 ab.

Vierzig Jahre später hört man oft: Keine Zeit. TV-Shows für junge Seher orientieren sich am Charts-Rundown, denn so kann man immer weg und wieder hinzappen. 64 Prozent der us-amerikanischen Teenager hören angeblich Musik ausschließlich auf YouTube. Der koreanische "EDM meets K-Pop meets Hip Hop"-Verschnitt Psy wurde auf diese Weise ausgerechnet am prognostizierten Weltuntergangstag, dem 21. Dezember, der erste Pop-Klickmilliardär. Was kann Psy, was andere nicht können?

Rapper PSY

EPA / RUNGROJ YONGRIT

Die Musik, durch die wir uns in den Portalen klicken, sagen viele Popfeinspitze, sei selbst eine, die schon darauf rechne, dass die Hörerschaft keine Zeit hat oder sich keine nimmt. Dementsprechend klinge die "Knöpfchendreher"-Musik, wie Skrillex selbst sagt: Thrills statt Skills. Hauptsache es knallt, hochgeköchelter Hooks-Fetischismus auf Pumpbeats von der Stange. Statt einer Entfaltung von Klängen in der Zeit mehr, der man zuhören soll, ein Beschuss mit derzeit angesagten Schlüsselreizen, dem man nicht entkommen soll.

Unter dem Kürzel EDM alias European Dance Music ist der Virus mittlerweile in der us-amerikanischen Popkultur mutiert und betreibt dort das, was der Kulturkonservatismus in Europa einst der us-amerikanische Popkultur unterstellte: die Fragmentierung der "eigenen", in dem Fall afroamerikanisch geprägten Dance Music durch geschichtsvergessenes High Energy-Gedöns.

Der neue Stadionrock aus dem Schoß der Clubkultur macht DJ´s zu Millionären. Das Wirtschaftsmagazin Forbes hat 2012 erstmals die Einkünfte von Skrillez bis David Guetta gelistet. Sie liegen im zweistelligen Millionenbereich. Der niederländische Cash-King Tiesto kassiert im Schnitt pro Auftritt 250.000 US-Dollar. Sogar Paris Hilton will jetzt offenbar den Beruf wechseln und vom Celebrity-Partygast zum Celebrity-Partymacher vulgo House-DJ werden.

Der Rest der Welt steht draußen vor der Tür und will vielleicht gar nicht da rein. Das Vertrackte an der Sache ist nur: Wie kann man heute mit den Mitteln der Popkultur gegen das operieren, was Pop einst selbst mit Verve in Stellung brachte, wenn man nicht in bürgerlichen Elitarismus zurückfallen will? Wie macht man (Anti-) Pop gegen wohl bald auch noch börsennotierte EDM-Affektstimulation? Wie verteidigt man Euphorie und Melancholie gegen das brachiale Geböller, ohne sich in das Geraune von Tiefe, Handwerk und Seele zu verlieren?

Grimes

Raphaël Ouellet

Grimes

Musikacts wie Laurel Halo oder Grimes stellen sich derzeit dieser Herausforderung. Laurel Halo macht auf schwachbrüstige Dubstep-Kate Bush, Grimes testet Nervgrenzen mit überdrehten Bubble-Gum-Vocals im Neo-Gothic-Gewand. Man könnte vielleicht sagen: Hier wird Entfremdung wiedergekäut und zu einer Musik verwurstet, die vom Dünnen, Hohlen und Billigen handelt, ohne so sein zu wollen - mit durchaus zwiespältigen Resultaten. Hören wollen wir das Ganze nämlich nur bedingt.

Keine Zeit bzw. gegen die Zeit: Der Hinweis auf die Gehetztheit gab dieses Jahr auch den Ausstellungstitel für eine Kunst-Schau im 21er Haus in Wien, die zeigen wollte, was der Kunst so zum vagen Zusammenhang Überforderung, Zwangskreativität, Burn Out, Überarbeitung, Prekarisierung und nicht zu vergessen Depression einfällt. Als Leitformel diente die Diagnose des erschöpften Selbst von Alain Ehrenberg. Der französische Soziologe beschreibt damit unter anderem ein Schuldgefühl. Das nährt sich weniger von durch Verbote gezüchteten Neurosen der verblichenen autoritären Gesellschaft als vom Leid am Unvermögen. Die Frage, die die unglücklichen Selbste nach der Liberalisierung der Sitten sowohl in Castingshows wie auch in die Arme der Psychotherapeuten und Motivationstrainer treibt, sei heute nicht mehr "Was darf ich tun?", sondern "Was kann ich tun?"

Das erschöpfte Selbst von Chan Marshall alias Cat Power sagte krank und pleite Ende 2012 ihre Europa-Tournee ab. In ihrem magischen Mantra "Nothing But Time" singt sie:

"Your world is just beginning
It's up to you to be a superhero
It's up to you to be like nobody
You ain't got nothing but time."

Im Sumpf mit den Sumpf Jahrescharts, am Sonntag, den 31.12., 21-23 Uhr und für 7 Tage onDemand.

In Graz beim steirischen herbst lockte ein 7 Tage / 24 Stunden-Marathon all die, die keine Zeit haben, etwas zu versäumen. Wer wollte, konnte um 5 Uhr in der Früh alternative Stadterkundungen mitmachen. Danach gab es Yoga für den Rest vom Schützenfest, später massierten die Panels und Vorträge die Rezeptoren. Den Abschluss bildeten oft Konzerte oder DJ-Reihen, bevor am nächsten Morgen wieder alles von vorn losging. Keine Atempause, Gedanken werden gemacht. Und schlafen können wir, wenn wir tot sind - oder auf Matratzen, die im "Camp" des Teach-Ins bereitgestellt waren.

Wenn wir Glück haben und nicht zu erschöpft von allem sind, nehmen wir uns ebendort einen Satz zu Herzen, den der umtriebige Bjun Chul Han, auch er ein unermüdlicher Kritiker der "Müdigkeitsgesellschaft" und des pornografischen "Transparenzterrors", für uns dort platziert haben könnte: "Der Eros besiegt die Depression."

Für Eilige mit Weile

Die Tracks des Jahres von Katharina "Maria" Seidler

15. LOL Boys Changes
14. Lukid USSR
13. Daphni Yes I Know
12. Octo Octa I can feel you (Dub Version)
11. Dean Blunt & Inga Copeland 5
10. Trimbal Confidence Boost (Harmonimix Edit)
09. NHK'Koyxeи 638
08. The Reboot Joy Confession Bless you so high
07. Baba Stiltz Experience
06. Shed I come by night
05. Zebra Katz Ima Read
04. John Talabot Oro y Sangre
03. TNGHT Higher Ground
02. Supreme Cuts Whispers in the dark
01. LA Vampires feat. Maria Minerva Seasons change

Die Alben von Fritz "Bosse" Ostermayer

15. Guardian Alien See The World Given To A One Loved Entity
14. Rob St. John Weald
13. Chromatics Kill For Love
12. Volcano The Bear Golden Rhythm/Ink Music
11. Sharon van Etten Tramp
10: F: The Black Swans Occasion For Song T
09. Raime Quarter Turns Over A Living Line
08. Soap&Skin Narrow
07. Kendrick Lamar Good Kid, M.A.A.D City
06. Perfume Genius Put Your Back N 2 It
05. Neneh Cherry & The Thing The Cherry Thing
04. Swans The Seer
03. Exitmusic Passage
02. Talk Normal Sunshine
01. Bosse-de-Nage III

Die Alben des Jahres von Thomas "Sharon" Edlinger

15. Tim Hecker and Daniel Lopatin Instrumental Tourist
14. Chromatics Kill for Love
13. Actress R. I. P.
12. Raime Quarter Turns Over A Living Line
11. Soap and Skin Narrow
10. Perfume Genius Put Your Back N 2 It
09. Frank Ocean Channel Orange
08. Mile Me Deaf Eat Skull
07. Andy Stott Luxury Problems
06. Santigold Masters of Make-Belief
05. Sinkane Mars
04. Holy Other Held
03. Bosse De Nage III
02. Alt J An Awesome Wave
01. Sharon van Etten Tramp