Erstellt am: 30. 12. 2012 - 21:00 Uhr
Nothing But No Time
"Bird On a Wire", die Doku über eine Konzerttournee von Leonard Cohen, zeigt den Auftritt als Krise. Die Verstärker wollen nicht, wie sie sollen, und der sensible Troubadour will nicht nur deshalb oft nicht vor das Publikum. Einmal verlässt er während des Konzerts die Bühne und rasiert sich im Backstageraum. Die Leute draußen aber warten, bis ihr Messias wieder im Licht erscheint. Cohen und seine magischen Lieder sind ihnen so wichtig, dass sie die Zeit vergessen. Die Szene spielte sich 1972 ab.
Vierzig Jahre später hört man oft: Keine Zeit. TV-Shows für junge Seher orientieren sich am Charts-Rundown, denn so kann man immer weg und wieder hinzappen. 64 Prozent der us-amerikanischen Teenager hören angeblich Musik ausschließlich auf YouTube. Der koreanische "EDM meets K-Pop meets Hip Hop"-Verschnitt Psy wurde auf diese Weise ausgerechnet am prognostizierten Weltuntergangstag, dem 21. Dezember, der erste Pop-Klickmilliardär. Was kann Psy, was andere nicht können?
EPA / RUNGROJ YONGRIT
Die Musik, durch die wir uns in den Portalen klicken, sagen viele Popfeinspitze, sei selbst eine, die schon darauf rechne, dass die Hörerschaft keine Zeit hat oder sich keine nimmt. Dementsprechend klinge die "Knöpfchendreher"-Musik, wie Skrillex selbst sagt: Thrills statt Skills. Hauptsache es knallt, hochgeköchelter Hooks-Fetischismus auf Pumpbeats von der Stange. Statt einer Entfaltung von Klängen in der Zeit mehr, der man zuhören soll, ein Beschuss mit derzeit angesagten Schlüsselreizen, dem man nicht entkommen soll.
Unter dem Kürzel EDM alias European Dance Music ist der Virus mittlerweile in der us-amerikanischen Popkultur mutiert und betreibt dort das, was der Kulturkonservatismus in Europa einst der us-amerikanische Popkultur unterstellte: die Fragmentierung der "eigenen", in dem Fall afroamerikanisch geprägten Dance Music durch geschichtsvergessenes High Energy-Gedöns.
Der neue Stadionrock aus dem Schoß der Clubkultur macht DJ´s zu Millionären. Das Wirtschaftsmagazin Forbes hat 2012 erstmals die Einkünfte von Skrillez bis David Guetta gelistet. Sie liegen im zweistelligen Millionenbereich. Der niederländische Cash-King Tiesto kassiert im Schnitt pro Auftritt 250.000 US-Dollar. Sogar Paris Hilton will jetzt offenbar den Beruf wechseln und vom Celebrity-Partygast zum Celebrity-Partymacher vulgo House-DJ werden.
Der Rest der Welt steht draußen vor der Tür und will vielleicht gar nicht da rein. Das Vertrackte an der Sache ist nur: Wie kann man heute mit den Mitteln der Popkultur gegen das operieren, was Pop einst selbst mit Verve in Stellung brachte, wenn man nicht in bürgerlichen Elitarismus zurückfallen will? Wie macht man (Anti-) Pop gegen wohl bald auch noch börsennotierte EDM-Affektstimulation? Wie verteidigt man Euphorie und Melancholie gegen das brachiale Geböller, ohne sich in das Geraune von Tiefe, Handwerk und Seele zu verlieren?
Raphaël Ouellet
Musikacts wie Laurel Halo oder Grimes stellen sich derzeit dieser Herausforderung. Laurel Halo macht auf schwachbrüstige Dubstep-Kate Bush, Grimes testet Nervgrenzen mit überdrehten Bubble-Gum-Vocals im Neo-Gothic-Gewand. Man könnte vielleicht sagen: Hier wird Entfremdung wiedergekäut und zu einer Musik verwurstet, die vom Dünnen, Hohlen und Billigen handelt, ohne so sein zu wollen - mit durchaus zwiespältigen Resultaten. Hören wollen wir das Ganze nämlich nur bedingt.
Keine Zeit bzw. gegen die Zeit: Der Hinweis auf die Gehetztheit gab dieses Jahr auch den Ausstellungstitel für eine Kunst-Schau im 21er Haus in Wien, die zeigen wollte, was der Kunst so zum vagen Zusammenhang Überforderung, Zwangskreativität, Burn Out, Überarbeitung, Prekarisierung und nicht zu vergessen Depression einfällt. Als Leitformel diente die Diagnose des erschöpften Selbst von Alain Ehrenberg. Der französische Soziologe beschreibt damit unter anderem ein Schuldgefühl. Das nährt sich weniger von durch Verbote gezüchteten Neurosen der verblichenen autoritären Gesellschaft als vom Leid am Unvermögen. Die Frage, die die unglücklichen Selbste nach der Liberalisierung der Sitten sowohl in Castingshows wie auch in die Arme der Psychotherapeuten und Motivationstrainer treibt, sei heute nicht mehr "Was darf ich tun?", sondern "Was kann ich tun?"
Das erschöpfte Selbst von Chan Marshall alias Cat Power sagte krank und pleite Ende 2012 ihre Europa-Tournee ab. In ihrem magischen Mantra "Nothing But Time" singt sie:
"Your world is just beginning
It's up to you to be a superhero
It's up to you to be like nobody
You ain't got nothing but time."
Im Sumpf mit den Sumpf Jahrescharts, am Sonntag, den 31.12., 21-23 Uhr und für 7 Tage onDemand.
In Graz beim steirischen herbst lockte ein 7 Tage / 24 Stunden-Marathon all die, die keine Zeit haben, etwas zu versäumen. Wer wollte, konnte um 5 Uhr in der Früh alternative Stadterkundungen mitmachen. Danach gab es Yoga für den Rest vom Schützenfest, später massierten die Panels und Vorträge die Rezeptoren. Den Abschluss bildeten oft Konzerte oder DJ-Reihen, bevor am nächsten Morgen wieder alles von vorn losging. Keine Atempause, Gedanken werden gemacht. Und schlafen können wir, wenn wir tot sind - oder auf Matratzen, die im "Camp" des Teach-Ins bereitgestellt waren.
Wenn wir Glück haben und nicht zu erschöpft von allem sind, nehmen wir uns ebendort einen Satz zu Herzen, den der umtriebige Bjun Chul Han, auch er ein unermüdlicher Kritiker der "Müdigkeitsgesellschaft" und des pornografischen "Transparenzterrors", für uns dort platziert haben könnte: "Der Eros besiegt die Depression."
Für Eilige mit Weile
Die Tracks des Jahres von Katharina "Maria" Seidler
15. LOL Boys | Changes |
14. Lukid | USSR |
13. Daphni | Yes I Know |
12. Octo Octa | I can feel you (Dub Version) |
11. Dean Blunt & Inga Copeland | 5 |
10. Trimbal | Confidence Boost (Harmonimix Edit) |
09. NHK'Koyxeи | 638 |
08. The Reboot Joy Confession | Bless you so high |
07. Baba Stiltz | Experience |
06. Shed | I come by night |
05. Zebra Katz | Ima Read |
04. John Talabot | Oro y Sangre |
03. TNGHT | Higher Ground |
02. Supreme Cuts | Whispers in the dark |
01. LA Vampires feat. Maria Minerva | Seasons change |
Die Alben von Fritz "Bosse" Ostermayer
15. Guardian Alien | See The World Given To A One Loved Entity |
14. Rob St. John | Weald |
13. Chromatics | Kill For Love |
12. Volcano The Bear | Golden Rhythm/Ink Music |
11. Sharon van Etten | Tramp |
10: F: The Black Swans | Occasion For Song T |
09. Raime | Quarter Turns Over A Living Line |
08. Soap&Skin | Narrow |
07. Kendrick Lamar | Good Kid, M.A.A.D City |
06. Perfume Genius | Put Your Back N 2 It |
05. Neneh Cherry & The Thing | The Cherry Thing |
04. Swans | The Seer |
03. Exitmusic | Passage |
02. Talk Normal | Sunshine |
01. Bosse-de-Nage | III |
Die Alben des Jahres von Thomas "Sharon" Edlinger
15. Tim Hecker and Daniel Lopatin | Instrumental Tourist |
14. Chromatics | Kill for Love |
13. Actress | R. I. P. |
12. Raime | Quarter Turns Over A Living Line |
11. Soap and Skin | Narrow |
10. Perfume Genius | Put Your Back N 2 It |
09. Frank Ocean | Channel Orange |
08. Mile Me Deaf | Eat Skull |
07. Andy Stott | Luxury Problems |
06. Santigold | Masters of Make-Belief |
05. Sinkane | Mars |
04. Holy Other | Held |
03. Bosse De Nage | III |
02. Alt J | An Awesome Wave |
01. Sharon van Etten | Tramp |