Erstellt am: 3. 1. 2013 - 05:02 Uhr
Die alltägliche Bestialität
"Mancher Leser wird finden, dass in diesem Buche reichlich viel gequält und gestorben wird. Der Verfasser gestattet sich, darauf aufmerksam zu machen, dass in diesem Buche fast ausschließlich von Menschen die Rede ist, die gegen das Hitlerregime ankämpften, von ihnen und ihren Verfolgern. In diesen Kreisen wurde in den Jahren 1940 bis 1942 und vorher und nachher ziemlich viel gestorben."
(Hans Fallada, Berlin, am 26. Oktober 1946)
Die Briefträgerin Eva Kluge kennt die maschinengeschriebenen Briefe schon allzu gut. Als sie die Treppen der Jablonskistraße 55 hochsteigt, hält sie wieder so einen in der Hand, dieses Mal für die Quangels. Die Familie besteht aus dem Werkmeister Otto Quangel, seiner Frau Anna und dem einzigen Sohn, benannt nach dem Vater. Die Schritte der Briefträgerin werden schwerer, die "Heil Hitler"-Grüße kommen gedankenlos. Sie weiß schon etwas, was die Quangels noch nicht, aber in wenigen Augenblicken wissen werden. Sie überbringt eine Todesnachricht von der Front: Sohn Otto ist im Feldzug gegen Frankreich ums Leben gekommen.
Filmmuseum Potsdam
Der Makel des Widerstands
Aufbau Verlag
Die ersten Minuten nach Erhalt der Todesnachricht sind weitaus weniger dramatisch, als man es erwarten möchte. Die Eltern sind bestürzt, die Mutter zischt ein "Das habt ihr nun davon, du und dein Hitler" zum Vater. Dieser macht sich auf den Weg zur Arbeit. Jeden Tag sterben Söhne.
Die Quangels sind keine Bockerer, sie sind wie so viele Anfang der 1940er Jahre Befürworter des Führers. Er Mitglied der Arbeiterfront, sie Mitglied der Frauenschaft. Dass der eigene Sohn nun im standardisierten Brief von der Front als "Kriegsheld" hingestellt wird, macht jedoch beide wütend. Hat er doch damals geweint, der junge Otto, als er in den Krieg ziehen musste. Das holt die Eltern nun ein und sie beginnen an ihrem Gedankengut zu zweifeln. Und zwar in Form von Postkarten und Zetteln, auf denen sie zum Widerstand aufrufen. Mühevolle und hoffnungslose Botschaften, wie "Nieder mit dem Zwangs Elend Dicktat in unser Deutschland! Eine Hitler Regierung dürfen wir nicht Entlasten!!". Mehr als 2/3 dieser Postkarten wurden bei der SS von Bürgern abgegeben, die Quangels immer wieder denunziert.
Und spätestens jetzt schlägt die Geschichte in die Realität um. Otto und Anna Quangel heißen im echten Hitler-Deutschland Otto und Elise Hampel. Nicht ihr Sohn ist gefallen, sondern der Bruder Elises. Die Wirklichkeit ist gnadenloser als der Roman. 1942 werden die Hampels festgenommen, 1943 wegen "Vorbereitung zum Hochverrat" hingerichtet.
Aufbau Verlag
Die Wahrheit ist immer grau
Vater, Mutter, Kind und kompliziertere Familiengeschichten:
FM4 widmet sich in den Weihnachtsferien den Familien in der Literatur. Nicht klassischen Familien, sondern Familien-klassikern bzw. Klassikern, in denen die Familie eine wichtige Rolle spielt.
Als Hans Fallada 1945 mit den Prozessakten der Hampels in Berührung kommt, schreckt er noch vor einem Roman zurück. Aber die Geschichte der Familie Hampel interessiert ihn, vor allem die dunklen Schattenseiten. Widerstand im jungen Nachkriegsdeutschland nahm eine besondere Rolle für den Wiederaufbau ein, dafür wurde schon gerne die Zensur bedient. Denn bis zum Jahr 2011 erschien Falladas 700-Seiten-Werk im deutschen Sprachraum nie in ungekürzter Fassung. Schon zu DDR-Zeiten wurden jene Passagen gestrichen, in denen die Quangels/Hampels auch als Hitler-Befürworter umschrieben wurden. Dass der Widerstand gegen Hitler aus Rache für den Tod eines Familienmitgliedes und nicht etwa aus politischer Revolution entstand, hat für viele nicht ins Bild gepasst.
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Und dazwischen liegt das Böse: Aber eben nicht jenes der Diktatur von Hitler. Es ist das Böse nebenan: Nachbarn, die sich gegenseitig denunzieren, übereinander tuscheln, sich verraten. Neid und Gier auf der einen Seite, die Diktatur als Spielwiese solcher Abgründe auf der anderen. Fallada geht in seinem Roman sogar davon aus, dass der alltägliche Sadismus für Menschen damals wichtiger gewesen sei als der Hass gegen das Judentum oder die Unterstützung Hitlers. Es ginge darum, andere zu erniedrigen, um sich selbst zu erhöhen. Wie etwa Frau Waschke, eine Berliner Anrainerin, die das Ehepaar Hampel beim Verteilen ihrer Postkarten erwischte, festhielt und bei der Schutzpolizei anzeigte. Für ihre Zeugenaussage vor dem Volksgerichtshof bekam Frau Waschke 3,10 Reichsmark. Vom Ausgang des Verfahrens gegen die Hampels erfuhr sie zunächst nichts. Nachdem sie davon in Kenntnis gesetzt wurde, erlitt sie einen Schlaganfall, wurde 1948 verhaftet, wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt und zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt.
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Hans Fallada hat diese 700 Seiten in nur vier Wochen geschrieben, viele sagen im Morphiumrausch kurz vor seinem Tod 1947. So sehr dadurch literarische Mängel entstehen, so wenig lässt die Geschichte einen kalt. Die letzten 150 Seiten des Romans sind die wohl schwierigste Kost. Hier spart Fallada nicht mit Umschreibungen, um das Böse, das Bestialische, die Folter an den Quangels zu schildern. Aber er spart immer noch einiges aus, nämlich dass die Hampels von ihrem eigenen Todesurteil so geschockt waren, dass sie sich gegen Ende ihres Lebens gegenseitig beschuldigten, um sich selbst zu retten. Falladas Roman ist ein Buch über das menschliche Gewissen, und das ist selten rein.