Erstellt am: 28. 12. 2012 - 19:12 Uhr
Das Kino als Zuhause
Rewind 2012: Der FM4 Jahresrückblick
Eine spezielle Pressevorführung heuer werde ich wohl nie vergessen. Ende Juli hockte ich mit Journalisten aus ganz Europa in einem Pariser Vorführsaal, in der Luft lag gespannte Erwartung. Schließlich sollten wir allesamt an diesem Tag der phänomenalen Besetzung von "The Dark Knight Rises" gegenübersitzen.
Aber der Interviewtraum zerplatzt, als die Lichter nach dem apokalyptischen Finale angehen. Eine Mitarbeiterin des Verleihs erzählt von einer Schießerei, die sich bei einer Vorabpremiere in Colorado ereignet hat. Alle Pressetermine entfallen, erklärt die sichtlich aufgelöste Dame, demnächst werde es aber ein Statement des Regisseurs geben.
"I would not presume to know anything about the victims of the shooting but that they were there last night to watch a movie. I believe movies are one of the great American art forms and the shared experience of watching a story unfold on screen is an important and joyful pastime. The movie theatre is my home, and the idea that someone would violate that innocent and hopeful place in such an unbearably savage way is devastating to me" (Christopher Nolan zum Massaker von Aurora)
"Das Kino ist mein Zuhause", meint Christopher Nolan später in seiner Stellungnahme. "Der Gedanke, dass jemand diesen unschuldigen, hoffnungsvollen Ort mit so unfassbarer Grausamkeit überzieht, lässt mich am Boden zerstört zurück."
Diese und andere Sätze des Regisseurs schwingen auch über die furchtbare Tragödie hinaus noch nach. Denn für Filmsüchtige, wie Christopher Nolan selber einer ist, erweist sich der Amoklauf von Aurora auch als grundsätzlicher Angriff auf einen rituellen Ort.
Warner Bros
My cinema is my castle
Wenn es etwas gibt, was das Medium Film gerade in der digitalen Gegenwart noch immer zu einer Ausnahme-Kunstform macht, dann ist es diese abgesicherte Zone des dunklen Kinosaals. Dieser öffentliche Raum, der zum Abtauchen ins eigene Innere einlädt. Dieser Platz, an dem die Zeit außerhalb für Augenblicke lang bedeutungslos wird.
Tatsächlich scheint dieser Aspekt aus der Musik verschwunden oder nur mehr schemenhaft vorhanden zu sein. Wer setzt sich noch konzentriert einem kompletten Album aus, lässt sich von komplexen Pop-Erzählungen transformieren? Ein gestreamter Song ist im besten Fall gut für einen kurzen Euphorieschub, für viele nur noch wohliges Hintergrundrauschen, nicht einmal ein dreiminütiger Youtube-Clip wird von den meisten zu Ende geschaut.
Aber selbst wenn die Konzentrationsspannen in vielen Multiplex-Kontexten sinken und blinkende Handydisplays zum öden Vorführalltag gehören: Zuseher, die von einem Film richtig eingesaugt werden wollen, gibt es immer noch genügend. Auch der kontrovers diskutierte Siegeszug von 3D deutet in diese Richtung. Es geht um die Lust, von der Dunkelheit und dem flackernden Licht verschluckt zu werden, um das wohlige Gefühl eines zweistündigen Rückzugs aus der Realität. Auch, wenn der entsprechende Film es im besten Fall auf Konfrontation und Auseinandersetzung und Wirklichkeitsüberprüfungen anlegt.
Stadtkino Verleih
Heilige Motoren und meditatives Sterben
Private Lieblingsfilme 2012:
Drive, R: Nicolas Winding Refn
Shame, R: Steve McQueen
Take Shelter, R: Jeff Nicols
The Grey, R: Joe Carnahan
The Cabin In The Woods, R: Drew Goddard
Young Adult, R: Jason Reitman
Killer Joe, R: William Friedkin
Moonrise Kingdom, R: Wes Anderson
Beasts Of The Southern Wild, R: Benh Zeitlin
Killing Them Softly, R: Andrew Dominik
Ein Regisseur, der sich heuer genau diesem Thema näherte, der die bedrohte Magie der bewegten Bilder in den Mittelpunkt seines überwältigenden Comebackfilms stellte, ist Leos Carax. Auf irrlichternd artifizielle Weise erzählt sein zurecht gefeierter "Holy Motors" von der schwindenden Macht der Kino-Kathedrale, den heiligen Motoren der Analog-Ära und vom Abschiednehmen von einer sinnlichen Epoche. Wenn Kylie Minogue all diese Stimmungen in einer traurigen Ballade vereint, dann bricht das auch abgehärteten Anti-Nostalgikern das Herz.
Auf eben dieses Organ zielt vermeintlich auch Michael Hanekes filmischer Versuch über das Altwerden und den Tod. Dabei erweist sich "Amour" zumindest für den Schreiber dieser Zeilen als diametrale Antithese zu jeglicher Art von Herzens- und Schmerzens-Kino. Viel strenger wieder als im spielerischer angelegten "Das weiße Band" dekliniert der Wiener den Verfall einer alten Frau durch.
Wo uns Lars von Trier oder Terrence Malick etwa in ein Tränenmeer entlassen hätten, regt die reduzierte Sterbemeditation Hanekes auch zu ganz nüchternen Überlegungen zur Liebe, zur Verbundenheit, zu Sein oder Nichtsein an. Allerdings überwinden die unvergesslichen Blicke des grandiosen Duos Emmanuelle Riva und Jean-Louis Trintignant immer wieder die Hermetik der Bilder. Glücklicherweise, möchte ich als Hardcore-Romantiker anfügen.
Filmladen
Meta-Attacken und Serienkiller-Simulationen
Leos Carax und Michael Haneke waren natürlich nicht die einzigen, die die festgefahrene Form des gängigen Spielfilmformats in diesem Jahr unterwanderten. Besonders spannend empfand ich für meinen Teil dabei, wie die Ermüdung an schnarchigen Drehbuch-Konventionen auch das Genrekino durcheinanderwirbelte.
Im schönsten Gänsehaut-Schocker 2012, der subtilen Kidnapping-Saga "The Tall Man", die ausgerechnet der französische Tabubrecher Pascal Laugier ("Martyrs") inszenierte, ist nichts, wie es scheint. Wo andere Horrorthriller mit aufgesetzten Wendungen nerven, macht dieser Film den ständigen Twist zum Programm und führt dabei sämtliche üblichen Erwartungshaltungen ad absurdum. Und das mit stilvoll-schaurigen, unheildräuenden Szenen.
Noch viel weiter geht der Horrorfilm to end all Horrorfilms, die virtuose Liebes- und Kriegserklärung zugleich an das Genre. Geek-Ikone Joss Whedon, der mit "The Avengers" auch den charmantesten (und erfolgreichsten) Comicblockbuster drehte, schickte zusammen mit Drew Goddard eine Gruppe Teenager in eine Hütte im Wald. Dort lauern nicht nur Zombies und Dämonen, sondern auch der Schrecken der Postmoderne. Alles, was wir im Kino sehen, ist nur das Zitat eines Zitats, sagt uns "The Cabin In The Woods", all die Untoten des Genres sind bloße Klischee-Widergänger, es gibt nichts Neues mehr, nur noch das Fegefeuer der Referenzen.
Lionsgate
Mörderische Abgesänge
Unbedingt sehenswert:
Holy Motors, R: Leos Carax
The Hunger Games, R: Gary Ross
The Avengers, R: Joss Whedon
The Tall Man, R: Pascal Laugier
7 Psychopaths, R: Martin McDonagh
Prometheus, R: Ridley Scott
Paradies: Liebe, R: Ulrich Seidl
Looper, R: Rian Johnston
Sightseers, R: Ben Wheatley
The Dark Knight Rises, R: Christopher Nolan
Lawless, R: John Hillcoat
Amour, R: Michael Haneke
Hugo, R: Martin Scorsese
The Girl With The Dragon Tattoo, R: David Fincher
Skyfall, R: Sam Mendes
Cosmopolis, R: David Cronenberg
Twixt, R; Francis Ford Coppola
Empire Me, R: Paul Poet
Five Year Engagement, R: Nicholas Stoller
Argo, R: Ben Affleck
Wenn in der Hölle kein Platz mehr ist, kommen die Meta-Zombies auf die Erde zurück: Das gilt auch für die cool agierenden Massenmörder und Serienkiller in Martin McDonaghs post-postmoderner Satire "Seven Psychopaths". Ein rabenschwarzes Stück Pulp Fiction an der blutverschmierten Oberfläche, hämmert uns dieses narrative Experiment doch nur eines ein: dass die Emotionen im Böse-Buben-Genrekino bloß noch Second-Hand-Gefühle sind, die sich irgendein frustrierter Drehbuchautor ausdenkt.
Killer aller (Ab-)Arten bevölkerten viele der herausragenden Filme 2012. Während sich manche Regisseure bei dem Thema auf die Metaebene begaben, benutzten es andere sozusagen als plakative Verpackung. Altmeister William Friedkin inszenierte den in vielerlei Hinsicht härtesten Film des Jahres mit dem Südstaaten-Schocker "Killer Joe". Dabei steckt hinter dem Streifen, nachdem man nie wieder unschuldig ein Hendl verzehren kann, ein radikaler Abgesang auf Trailer-Trash-Milieus und den angeblichen Zusammenhalt der amerikanischen Working-Class-Familie.
Andrew Dominik wiederum benutzt in "Killing Them Softly" schwarze Lederjacken, fette Haartollen, schwere Waffen und andere Tarantino-Insignien für eine großartige Farce über das korrupte Finanzsystem. Finanziert werden konnte die schießwütige Kapitalismuskritik nur, weil sich ein Superstar wie Brad Pitt für den Film vor und hinter der Kamera einsetzte.
Thimfilm
Am Ende der Straße
Dabei schaffte es "Killing Them Softly" wenigstens für eine kurze Zeit in einige heimische Kinosäle. Das herrlich bodenständige und nicht minder brutale Prohibitions-Gangster-Epos "Lawless" des australischen Ausnahmefilmers John Hillcoat ("The Road") konnte man, wie "The Tall Man", bloß beim ungemein verdienstvollen /slash Festival hierzulande auf der großen Leinwand betrachten, "Killer Joe" wie die umwerfende Splatterkomödie „Sightseers“ nur im Rahmen der Viennale.
Apropos: Vieles, was im Genre-Underground gefeiert wird, findet leider höchstens noch via DVD, Blu-ray oder natürlich verbotener Download-Taste den Weg zu uns. Und auch einschlägige Prestigeproduktionen starten teilweise mit enormer Verspätung. "The Master" oder "Django Unchained" beispielsweise, die beide viele amerikanische Bestenlisten anführen, werden in Deutschland und Österreich erst 2013 zum Thema.
Umgekehrt wirkt eines der atemberaubendsten Meisterwerke, dass tatsächlich erst Anfang 2012 bei uns angelaufen ist, gegen Ende des Jahres fast ein wenig kaputt-gehyped. Als eingefleischter Fan von Nicolas Winding Refns hypnotischer Einzelgänger-Studie "Drive" prallt jeglicher Versuch, diesen großen Neo-Noir kleinzureden, natürlich an mir ab. Zu sagen gibt es zu dem hochromantischen und zugleich gewalttätigen Genre-Mix aber mittlerweile trotzdem nicht mehr viel.
constantin film
Gods lonely men
Ziellos herumdriftende Männer hatten jedoch auch abseits von "Drive" Hochkonjunktur. Was durch zeitgeistige Magazinartikel spukt und von Psychologen und Soziologen in Talkshows trivialsiert wird, brachte das Kino eindringlich auf den Punkt: Einstige maskuline Rollenbilder und Normen sind extrem brüchig geworden und einer hochgradigen Desorientierung gewichen.
Und so stolpern, hetzen und hecheln die verstörten Protagonisten durch berührende Meisterwerke wie "Shame" oder "Take Shelter". Müsste ich mich für eines dieser beiden Psychogramme entscheiden, die beide Anfang des Jahres gestartet sind, würde ich wohl Steve McQueens Sexsüchtigen-Portrait nehmen. Weil dessen rauschhafte Machart, zusammen mit der Performance von everybodys darling Michael Fassbender sich ewig in die Netzhaut einbrannte. Auf der anderen Seite fürchte ich mich noch immer (auf bestmögliche Weise) vor Michael Shannons wirrem Blick und seinem unpackbar intensivem Spiel in dem Borderline-Drama "Take Shelter".
Wie eine (unfreiwillige) Selbsthilfegruppe kaputter Männer wirkte auch das Personal rund um Liam Neeson im schwer unterschätzen Mensch-gegen-die-Natur-Epos "The Grey". Was im Vorfeld wie ein schlichter Survival-Schocker wirkte, entpuppte sich als eisiges Existentialismus-Drama mit einem glühend pathetischen Kern. Ein Film über die letzten Dinge, keinen kühlen Hauch weniger ernstzunehmend als etwa "Amour".
Filmladen
Girls just wanna have fun
Unvollständige persönliche Liste der dringend nachzuholenden Filme:
The Deep Blue Sea, R: Terence Davies
Sinister, R: Scott Derrickson
Ruby Sparks, R: Jonathan Dayton, Valerie Faris
Universal Soldier: Day Of Reckoning, R: John Hyams
Die Wand, R: Julian Roman Pölsler
Marina Abramović: The Artist Is Present, R: Matthew Akers
Dredd, R: Pete Travis
Magic Mike, R: Steven Soderbergh
For Ellen, R: So Yong Kim
The Innkeepers, R: Ti West
Die Dekonstruktion der Männlichkeit geisterte auch durch das Blockbuster-Kino. Im cleveren und gleichzeitig aufwühlend emotionalen Zeitreise-Thriller "Looper" entgleitet das Leben eines futuristischen Auftragskillers, dargestellt von Joseph Gordon-Levitt und Bruce Willis, während Emily Blunt waffentragend die Oberhand behält. Sogar das Testosteron-Testemonial James Bond wirkt im stylischen Comebackfilm "Skyfall" angeschlagen und marod.
Ridley Scott schickt in seinem faszinierendem Alien-Postskriptum "Prometheus" eine ganze Schar zwiespältiger Männer, von der Gier nach Wissen, Macht und Geld getrieben, ans andere Ende der Galaxie. Den Showdown mit einer außerirdischen Herrenrasse meistert aber nur die toughe Noomi Rapace.
Deren Part im sinistren Universum des schwedischen Krimiautors Stieg Larsson übernimmt in der US-Adaption "The Girl With The Dragon Tattoo" die knochenharte Rooney Mara. Ihre schwarzgekleidete Hackerin Lisbeth Salander bleibt am meisten in der Erinnerung haften in David Finchers slicker Version. Noch furioser verankerte sich nur mehr die einzigartige Jennifer Lawrence als Actionheldin im filmischen Bewusstsein. Ihre von Widersprüchen geprägte und einer unbändigen Energie angetriebene Figur im der außergewöhnlichsten Erfolgssaga des Jahres, dem Teenage-Sci-Fi-Blockbuster "The Hunger Games", imponierte als unangepasstes, eigenbrötlerisches Rolemodel.
Elmo
Im Land des Lachens und des Weinens
Neben den neuen femininen Aushängeschildern des Actionkinos beeindruckten aber vor allem zwei ganz normal getriebene Frauen aus dem (Leinwand-)Alltag nachhaltig.
Charlize Theron brilliert als in die Jahre gekommene Cheerleaderin in "Young Adult", dem Highlight des Jahres im Fach der dysfunktionalen Komödie. Wo Jason Reitman mit seinen bisherigen Filmen immer ins Versöhnliche abgebogen ist, kollidiert hier der Humor mit einer Schmerzhaftigkeit, die man gar nicht erwartet hätte.
Bei Ulrich Seidl, dem Großmeister des Selbsterniedrigungs-Kinos, ist dagegen immer mit kapitalen seelischen Verwundungen zu rechnen. Wieviel Wärme und Feingefühl die Hauptdarstellerin Margarethe Tiesel in die Sextourismus-Studie "Paradies: Liebe" bringt, das überrollt einen dann doch auf bewegendste Weise. Und macht viele Momente, in denen Hitze und Leere aufeinandertreffen, noch bedrückender.
Paramount
The Kids are alright
Hoffnung und Stärke absorbieren und eine Art Erlösung erahnen konnte man im Kino 2012 bei ganz jungen Protagonisten. Die kindlichen Königreiche, die sich die Prinzessinnen und Prinzen in Martin Scorseses "Hugo Cabret" und Wes Andersons "Moonrise Kingdom" erbauen, erzählen aber nicht bloß von naivem Eskapismus à la Hollywood. Denn natürlich müssen die Ausbruchsversuche aus der Norm beständig gegen den Terror der Realität verteidigt werden.
Auf besonders mitreißende Weise halten sich das Märchenhafte und das Desolate in Benh Zeitlins "Beasts Of The Southern Wild" die Waage. Nicht alles mag perfekt sein an diesem Debütwerk, aber die forsche, mutige und beglückende Aura der Hauptfigur Hushpuppy verfolgt mich seit der Viennale-Premiere.
Überhaupt ist ein Plädoyer für Charaktere (die schon mal durch mittelmäßige Filme huschen können) überfälliger als Loblieder auf technische Innovationen und formale Gimmicks. Das Kino, dieser therapeutische Rückzugsraum, dieses rituelle Zuhause, ist vor allem auch ein Ort des Aufeinandertreffens mit fiktiven Seelen. Mit Menschen, die einen abstoßen, anziehen, betören, belehren können. Die Vorfreude auf viele weitere solche Begegnungen im nächsten Jahr könnte größer nicht sein.
Polyfilm