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Robert Rotifer London/Canterbury

Themsenstrandgut von der Metropole bis zur Mündung: Bier ohne Krone, Brot wie Watte und gesalzene Butter.

27. 12. 2012 - 14:13

Der Dufflecoat-Effekt

Rewind 2012: Ich hatte hier heuer flapsig und vorschnell das Ende des Konsumkapitalismus ausgerufen. Ein etwas genauerer Blick auf den sich im vergangenen Jahr viral vermehrenden, globalen 18th Century Style.

Ewig schlepp' ich diesen Gedanken nun schon in mir herum. Das war die Geschichte aus dem Sommer über den beim Wiener Popfest beobachteten Kollektivgeist zwischen MusikerInnen, in der ich nebenher einen Satz über das Ende des Konsumkapitalismus angesichts der Kombination aus sinkenden Einkommen und anhaltender Wirtschaftskrise fallen ließ.

In irgendeinem Forum (es wird wohl ein gewisses soziales Netzwerk gewesen sein) erntete die flapsige These den Widerspruch des Ilias Dahimène von Seayou Records, und auch wenn wir dann nicht weiter drüber diskutiert haben, hat sein Einwand mich zum Denkfehler in meiner Analyse geführt.

Wie eigentlich immer, wenn wo wieder einmal nach alter Maya-Popdiskurs-Manier das "Ende von... xy" postuliert wird, haben wir es in Wahrheit natürlich nicht mit einem sauberen Schluss, sondern mit einem Wandel zu tun, und gerade, wenn wir vom Ilias und mir am besten bekannten Beispiel des Popgeschäfts als Testgelände des Kapitalismus ausgehen, dann zeichnete sich da schon länger eine Entwicklung ab, die dann im heurigen Weihnachtsgeschäft die Londoner High Streets im großen Stil erreicht hat:

Als einer, der in Pop als Massenkultur immer gern einen demokratisierenden Geist hineinprojiziert hat, sah ich mich in letzter Zeit zunehmend milde irritiert vom tendenziellen Elitarismus der Idee des Tonträgers als von Seltenheit geadeltes Kunst- und Luxusobjekt in Form von Limited Editions oder Boxsets; sosehr ich auch von den Objekten selbst eingenommen bin und so gut ich ihren Wert für jene verstehe, die versuchen, von diesem ewig schrumpfenden Geschäft zu leben.

Und dann saß ich schließlich Ende November als eingeladener Rezensent vor Beginn des Rolling Stones-Konzerts im Londoner O2-Centre, mit einer Karte in der Hand, für die ich umgerechnet 500 Euro bezahlen hätte sollen, und schaute mich um.

Ich sah die Baby Boomer und ihre begabtengeförderten Kinder, die perfekten Rock-Chick-Kostümierungen der Frauen und die bügelfrischen Tour-T-Shirts der Männer. Manche trugen den leicht besorgten Ausdruck von Leuten, die eine unvernünftige Ausgabe gemacht hatten, andere das entspannte Lächeln des Platzhirschen in seinem teuer erkauften Revier (Lächeln Hirsche? Egal). Als Mick Jagger in seiner ersten längeren Ansage des Abends scherzte, dass selbst die billigen Plätze "not cheap" seien, fügte er hinzu: "That's the trouble."

Unter seinem routiniert an den Grenzen des Erträglichen wandelnden Sarkasmus verfiel er dabei einen volkstümlichen Augenblick lang in genau jenes dem Unvermeidlichen ergebene Seufzen, mit dem Briten immer gern Stehsätze wie "Everything's getting more expensive" von sich geben, so, als wäre das der unverrückbare Lauf der Welt, selbst, wenn ihre eigenen Realeinkommen beharrlich sinken.

Und plötzlich wurde mir klar, wie sicher dieser 69-jährige immer noch am Wellenkamm des Zeitgeists balanciert. Die Entscheidung, zum 50. Bandjubiläum nur ganz wenige, dafür unglaublich teure Konzerte zu spielen, entspricht nämlich genau jenem Phänomen, das ich seit heuer salopp den Dufflecoat-Effekt nenne.

Seit sieben oder acht Jahren habe ich nämlich regelmäßig in der Schoolwear-Abteilung des No-Nonsense-Kaufhauses John Lewis für unsere Kinder jene dem britischen Klima perfekt entsprechenden Mäntel der Marke Gloverall erstanden, zu jeweils mit der Größe aufsteigenden, weder sonderlich günstigen noch skandalös hohen Preisen von 60 bis 140 Pfund. Heuer dagegen teilte man mir mit, das Modell sei ausgelaufen.

Ich hätte das ja mit einer kulturpessimistischen Randbemerkung hingenommen. Wäre mir nicht im Erdgeschoß selbigen Kaufhauses ein Dufflecoat genau derselben Marke und Machart (zuzüglich stylish ins Innenfutter eingenähtem Union Jack) zum Preis von 300 Pfund ins Auge gestochen.

Spendenbox für Canterbury Foodbank

Robert Rotifer

In der örtlichen Filiale der für ihre wohlhabende Kundschaft bekannten Supermarkt-Kette Waitrose werden neuerdings Coupon-Münzen für eine zur Ernährung verarmter Haushalte eingerichtete Foodbank gesammelt. Die Menge an Münzen im Vergleich zu den anderen für die Shoppers zur Wahl gestellten Wohltätigkeitsvereinen illustriert die gesteigerte Wahrnehmung dieses offensichtlichen Bedürfnis unter den Bessergestellten.

Man könnte das nun als typische Modeerscheinung abtun, nichts weiter, als die übliche Retro-Fetischisierung bzw. Mainstreamwerdung von Nischenästhetik, bloße 15 Jahre oder so, nachdem dieses Beatnik-Standard-Accessoire als Teil der Indie-Niedlichkeits-Garderobe aus der Mottenkiste geholt wurde.

Das begründet allerdings bloß die Umsortierung, kaum die rasende Verteuerung, die den Dufflecoat mit einem Schlag aus der relativen Reichweite eines guten Teils seiner bisherigen Klientel bugsiert hat.

Die Erklärung dafür, warum Gloverall bzw. John Lewis bzw. eine als Heritage-Produkt wiedererfundene Allerweltsmarke nach der anderen während einer Wirtschaftskrise bei stetig sinkender Kaufkraft der Kundschaft ihre Rettung ausgerechnet im Hochpreissortiment sucht, liegt tatsächlich in einer dauerhaften, tiefgehenden Veränderung unserer Gesellschaft.

Walthamstower Straßenszene

Robert Rotifer

Walthamstow, Nordostlondon, 2012

Das immer weitere Auseinandergehen der Einkommens- und Vermögensscheren waren wir ja schon seit den 1980ern gewohnt. Doch solange eine große Mehrheit das Gefühl haben konnte, am Konsum-Boom der Billig-Import-Ära teilzuhaben, schien das Abheben der Oberschicht den gut gefütterten NormalbürgerInnen bloß wie eine Schrulle des modernen Lebens.

Walthamstower Straßenszene

Robert Rotifer

Zielgruppe Walthamstow: Pulli um 1 Pfund, "keine Rückgabe, kein Umtausch, keine Rückvergütung" steht dabei.

Seit der sogenannten Sozialisierung der Kosten des abgewendeten Zusammenbruchs des Finanzsystems von 2008 (zwei Billionen Euro öffentlicher Gelder wurden seither EU-weit in die Bankenrettung gesteckt) ist das untere Ende der Schere mittlerweile allerdings unter die für die Konsumgesellschaft verwertbare Schwelle abgetaucht.

2012 in the UK: Jahre des simultanen Booms bei Luxusgütern und Suppenküchen

Und das wird in Großbritannien auch so bleiben, schließlich soll, wenn es nach der Philosophie der konservativ-liberalen Regierungspolitik geht, der weitere Abbau des Arbeitsrechts Britannien als Industriestandort im globalen Wettbewerb gegen China und Konsorten wieder konkurrenzfähig machen.

Um die Leute zum Annehmen auch der miesesten Jobs zu zwingen, wird kräftig an der Sozialhilfe gekürzt (dabei sind 60 Prozent der britischen Sozialhilfe-BezieherInnen sowieso berufstätig).

The working poor, also jene 4,82 Millionen BritInnen, die zwar einen Job, aber nicht genug Geld zum Überleben, geschweige denn für Einkaufstouren haben (laut der jeden sozialen Gefühlsdusels gänzlich unverdächtigen Quelle KPMG), sind also auf absehbare Zeit bestenfalls noch für Zocker hochverzinster Kurzkredite und Radikaldiskonter eine brauchbare Zielgruppe.

Walthamstower Staßenszene

Robert Rotifer

Das selbst in einem neuerlichen Desasterjahr für die Wirtschaft immer noch um 12 Prozent gestiegene Einkommen der Besserverdienenden füttert indessen das scheinbar paradoxe Phänomen des gleichzeitigen Booms von Luxusgütern und Suppenküchen.

Auslage eines Pfandleihers: "We Buy Gold"

Robert Rotifer

"We buy gold": Wachstumsbranchen Pfandleiher und Kredithaie

Abschied vom Nachkriegsmodell der Massenbefriedigung

Im Verein mit den von Griechenland bis Großbritannien zur Budget-Sanierung verordneten regressiven Steuermaßnahmen und der bewusst hergestellten sozialen Verelendung bedeutet das nicht weniger als die Verabschiedung vom Zeit unser aller Lebens für selbstverständlich genommenen Nachkriegsmodell der materiellen Befriedigung der Massen.

Geschäftslokal Pfandleiher, Kreditanbieter

Robert Rotifer

Die Konsumgesellschaft, da hat Ilias sicher recht, wird munter weiter bestehen, ja zu neuen Exzessen finden, aber ihre TeilnehmerInnenschaft verkleinert sich stetig in Richtung der feudalen Verhältnisse des 18. Jahrhunderts, diesmal allerdings zugunsten einer wahrhaftig globalen Elite, bildhaft gemacht im populärsten Youtube-Musik-Video des vergangenen Jahres.

Die Zukunft der Welt ist tatsächlich der Gangnam-Style: Das höhnische Vergnügen der verhätschelten Oberkruste einer von der Schuldenkrise zur gehorsamen Selbstausbeutung erpressten Gesellschaft – selbst, wenn der Tanz mit dem unsichtbaren Pferd als Allegorie auf ein Herrschaftssystem, das auf der zwischen seinen Arschbacken hervorschießenden heißen Luft einherreitet, zu wenig war und zu spät kam, wie es in diesem im September in The Atlantic erschienenen Artikel hieß.

Psys Video und seine Widersprüchlichkeit war 2012 aber auch bereits ein Vorausblick auf die potenziellen Schwierigkeiten der Popkultur, in dieser veränderten Welt ihre Rolle zu finden: Historisch war sie selbst ein Kind der gekippten Nachkriegs-Konsumgesellschaft und in ihrer Verbreitung seit den 1950ern vom Wohlstand der Massen proportional abhängig.

Einerseits hat sie sich – siehe Psy – von ihrem Ursprung im angelsächsischen Kernland weitgehend entkoppelt, andererseits ist das reformierte Geschäftsmodell ihres Mainstreams – siehe ebenfalls Psy – nun vollständig vom Product Placement der Luxusgüterindustrie abhängig und somit – siehe noch einmal Psy – zum ewigen Verbreiten der zahnlosesten aller hofnärrischen Ironien und somit letztendlich zur Verhöhnung des eigenen Publikums verurteilt.

Ich werde, wie eingangs vorgenommen, aller Versuchung zum Trotz erst recht nicht den Fehler begehen, von einem Ende zu reden oder allzu schnelle Schlüsse aus den sich zuspitzenden Verhältnissen in den aufstrebenden Ökonomien wie Indien zu ziehen (gerade auf der BBC-Seite gelesen: Indische TeepflückerInnen in Assam verbrennen den Chef ihrer Plantage).

Wie das 18. Jahrhundert ausgegangen ist, wissen wir jedenfalls.