Erstellt am: 25. 12. 2012 - 16:35 Uhr
Bambi lesen
1923 veröffentlichte der österreichische Autor und Journalist Felix Salten "Bambi. Eine Lebensgeschichte aus dem Walde". Walt Disney verfilmte das Buch 1942 und machte es bekannt. Noch heute steht das literarische Werk im Schatten seiner cineastischen Umsetzung. Dabei ist es ein zeitloses Werk über Mensch und Natur, Leben und Sterben, das wieder gelesen werden sollte.
Vermenschlichte Tiere
Unionsverlag
Das Buch handelt vom Erwachsenwerden des Rehbocks Bambi. Es ist ernster und lehrhafter als seine cineastische Verarbeitung. In chronologisch aufeinanderfolgenden Episoden begleiten wir Bambi auf den versteckten Pfaden durch die Wälder. Die Tiere können denken und sprechen, haben menschliche Züge, sind letztendlich aber doch instinktgetriebene Wesen, die balzen, wittern und Revierkämpfe austragen. Salten verstand es, diese beiden Pole, das Menschliche und das faktisch Tierische in den Hauptfiguren sanft auszubalancieren. Das schafft eine breite Solidarisierungsfläche für den Leser, der dadurch gleichermaßen mitfühlt und lernt.
Leichtigkeit und Tod
Es sind die liebevoll geführten Dialoge zwischen Bambi und den anderen Waldbewohnern wie dem Eichkätzchen oder dem Käuzchen, die an ein Kinderbuch denken lassen, doch der Tod und das Überleben sind allgegenwärtige Themen. Gerade durch das Vermenschlichen der Tiere und die pathetischen, fast überzeichnenden Naturbeschreibungen von Salten entsteht eine beträchtliche Fallhöhe, wenn Salten schonungslos das grausame Gesetz von Fressen und Gefressen-Werden dokumentiert.
Vater, Mutter, Kind und kompliziertere Familiengeschichten: FM4 widmet sich in den Weihnachtsferien den Familien in der Literatur. Nicht klassischen Familien, sondern Familien-klassikern bzw. Klassikern, in denen die Familie eine wichtige Rolle spielt.
In einer der Episoden sterben auf wenigen Seiten gleich mehrere Nebenfiguren, röcheln und bluten ganze Absätze lang dem Tod entgegen. Auch Bambis Mutter wird vom Jäger erlegt. Während dieser ausgiebigen Darstellung des Sterbens der Tiere finden sich auch philosophische Ansätze, die die natürliche Vergänglichkeit des Lebens treffen. Eine besonders schöne Stelle ist eine kurze Episode, in der die letzten beiden Blätter eines Baumes im zärtlichen Dialog darüber nachdenken, was wohl passieren werde, wenn sie der herbstliche Wind vom Ast reißt und zu Boden trägt. "Ob man noch etwas fühlt, ob man noch etwas von sich weiß, wenn man dort unten ist?"
Der Mensch als Allmachtsfigur
Es ist der Jäger, der den Wald und seine Bewohner immer wieder heimsucht. Die Tiere nehmen ihn als schreckliche Allmachtsfigur wahr, die immer nur als "Er" bezeichnet wird. Salten, der bemerkenswerterweise selbst Jäger war, stellt seine Zunft als Zerstörer alles Natürlichen dar. Erst am Ende wird die überhöhte Stellung des Menschen gebrochen, als Bambi einen Jäger tot im Wald findet. "'Siehst du wohl, Bambi', sprach der Alte weiter, ‚'siehst du, dass Er daliegt, wie einer von uns?"
Scheidungskind und Halbwaise
Die familiären Strukturen in Bambi hat sich Felix Salten aus dem Tierreich abgeschaut. Wären die Figuren keine Tiere, könnte man von Bambi als Scheidungskind und Halbwaise sprechen. In der Geschichte übernehmen die Mütter die Erziehung der Rehkitze, während die Väter alleine durch die Wälder streifen. Als der junge Bambi die Spur der Mutter verliert, taucht ein weiser, alter Rehbock auf und mahnt ihn, nicht nach seiner Mutter zu rufen. "Kannst du nicht alleine sein?" Die Mutter stirbt, und Bambi verliebt sich in Faline, zieht aber nach kurzer gemeinsamer Zeit die Einsamkeit vor. Als Bambi selbst vom Jäger angeschossen wird, übernimmt von da an der alte Rehbock Bambis ideologische Prägung. Um überleben zu können, müsse man alleine durch die Wälder streifen.
Bambi lesen
Noch heute schafft es die Geschichte von Bambi all die genannten Thematiken mit einer beeindruckenden Dringlichkeit zu vergegenwärtigen. Es ist ein melancholisches und trauriges Werk, ein Klassiker. "Bambi. Eine Lebensgeschichte aus dem Walde" ist 2012 neu erschienen. Man kann es lesen.