Erstellt am: 21. 12. 2012 - 14:55 Uhr
Exportschlager Mensch
"Ich bin in Chişinău zur Welt gekommen und ein Moldauer, aber du, du bist ein Rumäne", sagt der vierjährige Evo zu seinem dreijährigen Bruder Simon, der bereits in der rumänischen Hauptstadt Bukarest geboren wurde. Ein sanfter Boxstoß lässt verstehen, dass Evo nicht unbedingt viel von Rumänien hält. Hätte der kleine Bub die Entscheidung für die Familie Lupascu treffen dürfen, sie wäre wohl in Chişinău geblieben. Entschieden haben aber die Erwachsenen. Nur wenige Monate liegen zwischen den beiden Geschwistern, wenige Monate, in denen eine weitere Familie beschlossen hat, ihre Heimat, die Republik Moldau, zu verlassen.
Mihai Stoica
Der leere Landstrich an der EU-Außengrenze
Die Republik Moldau (oft noch Moldawien), war vor dem Zusammenbruch der UdSSR eine der reichsten Sowjetrepubliken. Einst hatte sie Stalin nach dem Zweiten Weltkrieg aus einem Stück Ukraine und dem mehrheitlich rumänischsprachigen Bessarabien zusammengeschustert. Jahrhundertelang hatte der Landstreifen Bessarabien davor den Großmächten Russland, dem Osmanischen Reich und Österreich als Puffer gedient, war aber von 1918 bis 1940 ein Teil Rumäniens. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der darauf folgenden Unabhängigkeit der Republik Moldau 1991, erklärte sich der frühere ukrainische Teil des Landes östlich Dnister-Flusses seinerseits zum eigenen Staat. Dieser Staat, Transnistrien, wurde völkerrechtlich jedoch nie anerkannt. Sein Überleben wird heute von Moskau finanziert. Transnistrien bleibt ein sogenannter "eingefrorener Konflikt", nur wenige Kilometer von der EU-Außengrenze entfernt.
700.000 haben das Land bereits verlassen
Während nun Transnistrien einer politischen Lösung harrt, kommen der winzigen Republik westlich des Dnister die Menschen abhanden. Schätzungen zufolge haben bis zu 700.000 Menschen den Landstreifen, der heute rund 3,5 Millionen Bewohner beherbergt, verlassen. Der Großteil nach 2000, nachdem die russische Krise von 1998 die alten Exportkanäle in Richtung Osten verstopfte. In Sowjetzeiten hatte Moldawien die halbe UdSSR mit Wein, Fleisch und Gemüse versorgt. Heute sind die Menschen, zynisch ausgedrückt, das wichtigste Exportgut des kleinen Landes. Die Weinausfuhren hingegen werden von russischer Seite als Druckmittel eingesetzt, wann immer sich die Regierung in der moldawischen Hauptstadt Chişinău nach Moskauer Verständnis zu weit gen Brüssel neigt oder das "gemeinsame Erbe" nicht entsprechend honoriert. Dann werden in den moldawischen Weinflaschen "hygienische Mängel" festgestellt und die Waren beim Zoll konfisziert. Der Großteil der moldawischen Weinproduktion ist für den Export nach Russland bestimmt. Werden die mit Weinkisten beladenen Güterzüge an der russischen Grenze wieder zurückgeschickt, trifft dies die für die Volkswirtschaft bedeutende moldawische Weinindustrie ins Herz. So geschehen etwa im Sommer 2010, nachdem der damalige moldawische Interimspäsident Mihai Ghimpu den 28. Juni zum "Tag der sowjetischen Besatzung" erklärt hatte.
Mihai Stoica
Ein Jahr zuvor im April, während der Tumulte nach den Parlamentswahlen, wo die regierende kommunistische Partei die absolute Mehrheit erreichte, hat sich Anastasia Lupascu gemeinsam mit ihrem Mann Max entschlossen, das Land zu verlassen und nach Rumänien zu übersiedeln. Den eingangs genannten Evo im Kinderwagen, den kleinen Simon noch im Bauch. Auch sie hatten an den Protesten teilgenommen, die damals aufgrund von Wahlbetrugsgerüchten ausgebrochen waren. "Ich habe bei einer der großen Demonstrationen schwanger eine Rede gehalten. Freunde, die in Beziehung mit den Machtzirkeln standen, haben mich angefleht, mich von den Protesten fernzuhalten", erzählt Anastasia. Da habe sie verstanden, dass sich in absehbarer Zeit in der Republik Moldau nichts ändern wird, so die 28-Jährige.
Das Nachbarland Rumänien biete ihr und ihrer Familie ohne Zweifel heute mehr Sicherheit, ihrem Mann, einem Musiker, ein größeres Publikum und nicht zuletzt den Kindern eine kulturelle Identität. Eine solche hat sich ihrer Meinung nach in der Republik Moldau zwischen den rumänischsprachigen und den russischsprachigen Bewohnern zerrieben, eine dritte Gruppe, das Turkvolk der Gagausier, kämpft im Süden des Landes gegen Windmühlen und für den Erhalt der eigenen Tradition. "Was mir in der Republik Moldau aber am meisten gefehlt hat, war mich auf Rumänisch auszudrücken", sagt die Doktorandin. Die einzelnen Gruppen in dem Landstreifen haben sich nämlich im Alltag auf ein Sprachgemisch geeinigt, das neben der rumänischen Sprache, wie sie an den meisten Schulen gelernt wird, vielfach russische Ausdrücke beinhaltet. Diesen linguistischen Misch-Masch habe sie ihren Kindern ersparen wollen und sich selbst eine zweite Geburt im Krankenhaus von Chişinău, sagt sie lachend.
Mihai Stoica
Weniger als ein Dollar pro Tag
Eine Kindheit in einer gefestigten kulturellen Umgebung ist ohne Zweifel ein privilegiertes Motiv, welches die junge Familie unter anderem veranlasst hat, das Land zu verlassen. Der Großteil der moldawischen Emigranten sucht in der Fremde, vor allem in Russland und den EU-Mitgliedsstaaten, nach einem besseren wirtschaftlichen Auskommen. Die Republik Moldau ist weiterhin das Armenhaus Europas. Die Zahl derer, die mit weniger als einem Dollar pro Tag auskommen müssen, ist laut einem Report der deutschen Konrad-Adenauer-Stiftung von 2011 seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion stark gestiegen. Es ist ein Berechnungsmodell für Verelendung, das gefühlt eher in Afrika und Asien ein reales Anwendungsgebiet findet. Doch auch der Wegfall der Gebildeten trifft das Land wirtschaftlich und politisch. Neben den Effekten des sogenannten Brain-Drain fehlt die Bildungselite vor allem als Trägerin eines Stabilisierungsprozesses, dessen die kleine Republik dringend bedürfte. Zumal sich in den chaotischen und korrupten Strukturen die organisierte Kriminalität rund um Menschen- und Organhandel geschmeidig bewegen kann.
Für viele, die bleiben, sind die Verwandten im Ausland existenzsichernd. Die Rücküberweisungen in Richtung Republik Moldau liegen im internationalen Spitzenfeld. Nach einem Bericht der Weltbank haben im Verhältnis 2009 nur die im Ausland lebenden Tadschiken, Togolesen und Menschen aus Lesotho mehr Geld in die Heimat transferiert. Gemessen an der Wirtschaftsleistung der Republik beträgt die Summe der Rücküberweisungen je nach Schätzung bis zu dreißig Prozent. Diese Mittel werden in der Heimat überwiegend dafür genutzt, Lebensnotwendiges und Importgüter zu kaufen. Zu einem nachhaltigen Wirtschaftswachstum können sie indes kaum beitragen.
Mihai Stoica