Erstellt am: 21. 12. 2012 - 01:40 Uhr
The House That Heaven Built
Die Archive sind lange noch nicht leer. Genügend verstaubte Keller und Hinterzimmer wollen noch nach ungehobenen Schätzen durchforstet werden. Die, die damals nicht dabeigewesen sind, als kleine Erdbeben durch die Musikgeschichte wüteten, wollen nachhören, lernen und begreifen. Die, die heute über die heute Jungen ein bisschen den Kopf schütteln und verbissen zürnen wollen, weil ja immer früher alles schon besser gewesen ist, haben mittlerweile ihre raren Dubplates zerkratzt, verloren und versetzt, die Partys von vor dreißig Jahren in einem - wie auch immer induzierten - Nebel vergessen. Es gab damals noch nicht so ein gutes Internet, das sich alles für einen merkt.
Wenn nicht gerade wie immer vor Weihnachten die besten nie gehörten 15 Hits von Amy Winehouse oder die vierzigste Compilation zum Thema "Zu Recht unbekannte C-Seiten von Sheffielder Postpunk-Bands (1979-80)" die Aufmerksamkeit verstellen, hat die Geschichtsforschung nur Erfreuliches anzubieten: So fern die Auswahl an alten, verlorengeglaubten oder überhaupt noch nie gekannten Musikstücken denn schön kuratiert ist, vielleicht noch fein verpackt, liebevoll aufgemacht und mit kontextstiftenden Linernotes versehen, können solch Liebesbriefe aus der Vergangenheit den Menschen tatsächlich in andere Zeiten und Bewusstseinzustände transportieren.
Alexis Maryon
All das trifft auf die schon Mitte des Jahres erschienene Compilation „This Ain’t Chicago - The Underground Sound Of UK House & Acid 1987 – 1991“ zu. Um was es hier gehen soll, das verrät schon der Titel der auf Doppel-Vinyl, Doppel-CD und, na gut, als Download erschienenen Zusammenstellung. Sie soll hier noch einmal in vollem Glanz erstrahlen. Dem Label STRUT Records, hinsichtlich Sound-Archäologie eines der stilsichersten und versiertesten Labels der Gegenwart, ist dieses Jahr neben einigen anderen wundervollen Releases mit der von Trevor Jackson kompilierten Zusammenstellung „Metal Dance“ schon ein großer, großer Wurf gelungen. Die vorliegende Not-Chicago-Compilation aber schickt sich an, 2012 als Siegerin ihrer Disziplin zu beenden.
This Ain't Chicago
Das liegt nicht zuletzt daran, dass auch hier ein Mann mit großer Liebe zur Materie und Ahnung – sicherlich auch mit ein klitzeklein wenig Willen zur Selbstbeleuchtung – für die Auswahl der Stücke zuständig war. Die Zusammenstellung von „This Ain’t Chicago“ hat nicht irgendein Label initiiert, weil man vor lauter Haareraufen schon gar nicht mehr gewusst hat, was denn überhaupt noch so an Semi-Obskurem auf Tonträger gebannt werden könnte, um den Menschen irgendeine vorgegaukelte Exklusivität zu verkaufen. Nein, die Idee zur Platte ist in Compiler Richard Sen selbst angesichts seines berstenden Plattenregals und der Erkenntnis gewachsen, dass hier ein Abschnitt der Musikgeschichte nun wirklich noch unzureichend bis gar nicht dokumentiert ist. House und Chicago – davon hat man mittlerweile vielleicht schon gehört, aber die frühen Gehversuche in England, die Aneignungen, die Umdeutungen, aber auch die gezielten Abgrenzungsversuche zur Geburtsstätte dieser magischen, himmlischen Tanzmusik mussten erst einmal festgehalten werden.
Richard Sen ist DJ seit Jahr und Tag, war durchaus – sofern das nicht dem Selbstverständnis der Tätigkeit widerspricht - anerkannter Sprayer und in der jüngeren Vergangenheit vor allem als eine Hälfte des Duos Padded Cell bekannt. Sen versucht mit „This Ain’t Chicago“ erst gar keine auf Komplettheit abzielende Zusammenstellung. Gerade dadurch wird die Compilation umso kanonischer: Semi-Hits, Quasi-Klassiker und Stücke, die solche hätten sein können, mischen sich hier munter mit Privat-Lieblingen von Sen, wohl auch den verbohrtesten Archivaren unbekannten Preziosen und ein paar wenigen mit dem leichten Hauch von Albernheit benetzten Tracks, die in einem DJ-Set wohl bloß als Füllmaterial zum Einsatz kommen dürften. Hier aber gehören sie hin. So entwirft Sen nämlich aus eventuell bekannten Stücken von Baby Ford, Bizarre Inc, Sly and Lovechild, Bang The Party oder „Where’s The Love Gone“ von Julie Stapleton auf der einen Seite und Raritäten andererseits das Ambiente eines merkwürdig verspiegelten Nachtclubs, in dem der Dancefloor ebenso wichtig ist wie eher experimentelle, psychedelisch angehauchte Listening-Elektronik.
Man muss mit House gar nicht allzu viel am Hut haben, man kann sich diese fantastische Compilation, die „This Ain’t Chicago“ ist, auch ganz einfach so zu Hause anhören und sich vielleicht dazu im Geiste einen Ort wie Manchester ausmalen. Eventuell noch ein Smiley-T-Shirt aus dem Kleiderschrank ziehen, die bunten Farben aber kommen von ganz alleine.