Erstellt am: 20. 12. 2012 - 16:58 Uhr
Sex on Wheels
"Beziehung - das ist ein schwieriges Thema", seufzt Stefan Hladik; er ist Zerebralparetiker und ein Bewohner der KOMIT-WG in Wien. "Kennenlernen und sich treffen war sicher schon einmal, aber etwas Längerfristiges ist halt eher schwierig." Denn vor allem im vollbetreuten Status der WG ist so etwas wie Intimität nicht oder nur schwer vorstellbar, sagt Stefan. "Ich würde natürlich alles dafür tun und habe schon meine ganz genauen Vorstellungen. Aber das ist immer leichter gesagt als getan."
![© Source: Arjen Toet, CC BY 2.0, via flickr Hunde, Frau im Rollstuhl, Mann schiebt, am Strand](../../v2static/storyimages/site/fm4/20121251/kuschelrock_body.jpg)
Source: Arjen Toet, CC BY 2.0, via flickr
Kennen lernen
Zeitlupe ist eine Peer-to-Peer-Beratung von Frauen mit Behinderung für Frauen mit Behinderung des Vereins Ninlil. Ninlil bietet außerdem Empowerment für Frauen mit Lernschwierigkeiten an.
So wie Stefan geht es vielen Menschen mit Behinderung: sie wünschen sich ein romantisches Leben zu zweit. Das zu erreichen ist oft schwierig. Es hakt zum Beispiel schon an den Möglichkeiten, eineN potenzielleN PartnerIn kennen zu lernen, wenn man immer in Betreuung ist. Stefan zum Beispiel ist früher viel in Discos gegangen, um Frauen kennen zu lernen. Elisabeth Löffler, Peer-Beraterin bei Zeitlupe und selbst Rollstuhlfahrerin, hat ihren ersten Freund auf einer Singlebörse gefunden: "Das ist ein Medium, wo du dich nicht sofort siehst. Da wird anders kommunizierst und die Behinderung steht nicht im Vordergrund. Zuerst tauscht man sich aus, findet heraus, ob man sich überhaupt versteht." Wichtiges Feld fürs Kennenlernen ist auch die Arbeit: "Das ist so wie bei anderen Menschen: Dort treffen sich Leute. Diese Möglichkeit haben halt viele Menschen mit Behinderung nicht, weil Behindert-Sein und Arbeit ist ja nicht so selbstverständlich."
In einer Beziehung sein
Das vorherrschende Bild von Sexualität von Menschen im Rollstuhl möchten zum Beispiel die Queers on Wheels hinterfragen. Unter anderem, indem der Rollstuhl erotisch besetzt wird.
Der große Wunsch nach der idealen Beziehung ist laut Elisabeth Löffler auch ein Wunsch nach Normalität: "Wenn man eine Randgruppe ist, dann möchte man auch zum Mainstream gehören. Als gesellschaftliches Ideal gehört da die Zweierbeziehung dazu. Das Ideal ist die partnerschaftliche Zweierbeziehung mit Hund und Kind." Natürlich spiele da auch mit, wie oder ob man aufgeklärt wird. Oder welche Filme und Soap Operas man sich ansieht, ob einem/r da andere Modelle präsentiert werden. Aber das ist ja nicht nur bei Menschen mit Behinderung so, gibt Elisabeth Löffler zu bedenken.
Sie selbst war zwei Mal mit einem "Geher" zusammen, d.h. mit einem nicht-behinderten Mann. Ob es besondere Problematiken in Beziehungen zwischen behinderten und nicht-behinderten PartnerInnen gibt, da würde sie nicht generalisieren, sagt sie. Eher gibt es ähnliche Probleme wie in jeder Mann-Frau-Beziehung. Nur würden die viel deutlicher herauskommen: "Abhängigkeitsverhältnisse werden schneller sichtbar, wenn eine Person behindert ist und eine nicht. Dann gibt’s aber noch die inneren Machtverhältnisse: Wer hat eigentlich das Sagen? Es ist ja nicht immer die Person, die hilft, die, die dominiert. Andererseits hat die nicht-behinderte Person einfach körperlich mehr Macht, schon allein, weil Stufen keine Barriere für sie darstellen."
Der Rest der Welt geht häufig von vornherein von einem Machtgefälle in der Beziehung von zum Beispiel Geher und Rollstuhlfahrerin aus, was sich etwa bei Eheregelungen zeitgt: "Es ist nicht gut, wenn behinderte und nicht-behinderte Partner heiraten." sagt Elisabeht Löffler. "Denn man verliert als Mensch mit Behinderung irrsinnig schnell seine Unterstützungen, weil dein nicht-behinderter Partner dann 'für dich zuständig' ist. Da kommt ein gesellschaftlicher Gedanke von Hilflosigkeit und Nicht-Selbstbestimmt-Sein ins Spiel, aber auch eine Idee von Mann und Frau." Wie bei allen Beihilfensystemen geht der Staat also bei der Ehe von einem Versorgermodell aus.
![© FM4 / Clemens Fantur Rollstuhl](../../v2static/storyimages/site/fm4/20121251/wheel-1_body.jpg)
FM4 / Clemens Fantur
Das "Problem" Sex?
Oft wird davon ausgegangen, Menschen mit Behinderungen hätten keinen Sex oder es wäre gefährlich für sie, ihre Sexualität auszuleben. Das gilt für Menschen mit kognitiven Einschränkungen besonders, aber auch körperlich behinderte Menschen erfahren immer wieder Vorurteile, was ihre Sexualität betrifft. Da spielen viele Ängste mit, sagt Thomas Mossier von der Fachstelle hautnah in Kalsdorf der Steiermark: "Man denkt, man weckt schlafende Hunde. Oder es gibt die Sorge: was tun, wenn die jetzt schwanger werden?"
Daher ist Sexualität von Menschen mit Behinderung meist nur Thema, wenn "Probleme" auftreten. Wobei es hier eine Genderdifferenz gibt: behinderte Männer fallen eher auf, indem sie übergriffig werden oder aggressiv. Frauen sind eher zurückgezogen. Sie sind es, die vermehrt Grenzüberschreitungen am eigenen Leib erleben - in der Betreuung oder weil sie sich auf Beziehungen einlassen, die nicht unbedingt gut für sie sind.
Bei der Beratungsstelle finden Menschen mit Behinderung seit 1996 Rat und Hilfe zum Thema Sexualität: einerseits in der Einzelberatung oder in Workshops - wo zum Beispiel behinderte Frauen lernen, ihre Grenzen zu kennen und diese auch einzufordern, oder Männer umgekehrt auch Grenzen respektieren lernen.
Allerdings, meint Thomas Mossier, haben 17 Jahre Beratung und Hilfe gezeigt, dass man Sex nicht nur im Trockentraining und beim Drüber-Reden erfassen und erlernen kann. Deswegen ist man bei hautnah einen Schritt weiter gegangen.
Und die Lösung Sexualbegleitung
Über die Steiermark hinaus ist die Fachstelle seit einigen Jahren bekannt, weil sie SexualbegleiterInnen für Menschen mit Behinderung ausbildet. "Bei uns in der Sexualbegleitung ist der Ansatz: Ich bin ein sexuelles Wesen und habe diese Bedürfnisse, kann sie derzeit aber nicht ausleben. Vielleicht finde ich niemanden, mit dem ich Erfahrungen sammeln kann, vielleicht bin körperlich schon erwachsen, aber aufgrund von meinen geringen Erfahrungen weit hinten. Sexualbegleitung ist eine Möglichkeit, um mir eine Entwicklung zu ermöglichen."
Der Film Scarlet Road begleitet die Sexarbeiterin Rachel Wotton, die sich auf KlientInnen mit Behinderung spezialisiert hat. Im Film geht es um das Menschenrecht auf Sexualität und um Rechte von SexarbeiterInnen gleichermaßen. Einen guten Eindruck vermittelt der Trailer
Der Unterschied von Sexualbegleitung zur Sexarbeit ist, dass man nicht von vornherein eine gewisse Dienstleistung kauft. Sondern man bekommt um siebzig bis hundert Euro eine Stunde mit einem oder einer SexualbegleiterIn, in der alles Mögliche passieren kann: "Ich kann mich mit dem oder der angezogen ins Bett legen. Ich kann mich teilweise oder ganz ausziehen. Ich kann kuscheln, streicheln, gestreichelt werden. Ich kann Dinge anschauen, die ich noch nie gesehen habe außer in einem Heft oder einem Film, und ich kann sie sogar angreifen. Ich kann aber auch mit der Hand befriedigt werden oder beim/bei der anderen was machen. Ich kann mir aber nichts Fixes kaufen, sondern es ist immer nur das möglich, was in diesem Moment für beide okay ist." Aus gesundheitlichen Gründen sind weder Geschlechts- oder Oralverkehr noch sonstiger Austausch von Körperflüssigkeiten erlaubt. Wer dagegen verstößt, fliegt aus dem Programm.
2011 hat Libida rund 800 Sexualbegleitungsstunden von 15 SexualbegleiterInnen an insgesamt 147 KundInnen gebracht - 89 bis 90 Prozent der Kunden sind Männer. Derzeit kann sich die Sexualberatungsstelle vor Anfragen kaum halten, mit eineinhalb Stellen ist sie massiv unterbesetzt. Bisher ist das Angebot das einzige in Österreich. Es gibt zwar Verhandlungen mit dem Sozialministerium, aber keine konkreten Ergebnisse. Dabei wäre diese Dienstleistung für viele Menschen mit Behinderung sehr wichtig: "Es geht um eine Entwicklung der eigenen Sexualität und der Beziehungsfähigkeit. Ziel der Sexualbetreuung ist natürlich, dass die KundInnen diese irgendwann nicht mehr brauchen."
Grundvoraussetzung selbstbestimmt Leben
Diese Sicht deckt sich mit jener der Selbstbestimmt Leben-Bewegung. Diese ist in den 1970er Jahren in den USA entstanden und ist eine Interessensvertretung von Menschen mit Behinderung, die Gleichstellung und BürgerInnenrechte von Menschen mit Behinderung erkämpfen will. Behinderung wird nicht als individuelles "Problem", sondern als politische Kategorie verstanden. Die wichtigsten Forderungen sind Integration in alle Gesellschaftsbereiche und persönliche Assistenz anstatt Parallelstrukturen wie Heime und geschützte Werkstätten.
Wenn die Einrichtung von der Sexualbegleitung auch wichtig und richtig ist, meint Elisabeth Löffler, ersetzt sie aber nicht das Öffnen der Institutionen und die Integration von Menschen mit Behinderung in die Mehrheitsgesellschaft. "Wenn die Sexualbegleitung nur dazu da ist, die Triebe der Männer abzubauen, damit sie in ihrem Heim wieder brav sind, dann ist das der falsche Weg und auch ein bisschen eine magere Sicht auf Sex!" Wobei das nicht von den Anbietenden so gesehen wird, sondern eher von Eltern und BetreuerInnen, sagt Löffler. "Wenn aber tatsächlich die Sexualität von einem Menschen gestärkt wird - und damit auch das Selbstbewusstsein - dann wird der oder die vielleicht nicht mehr so brav und angepasst in seinem Heim bleiben."
Elisabeth Löffler plädiert grundsätzlich dafür, den Bereich Beziehung und Sex nicht als individuelles Problem oder privaten Wunsch einer Person mit Behinderung zu sehen, den man dieser zugestehen oder ermöglichen kann. Sondern ganz allgemein sollten Menschen mit Behinderung so selbstbestimmt leben können, dass sie sich auch im Bereich Beziehung selbstständig entwickeln können. Denn nur wenn die Gesellschaft sich ändert, kann sich auch in einem Teilbereich wie Sexualität und Beziehung etwas ändern. Elisabeth Löffler meint das so: "Bin ich als Mensch ohne Behinderung froh, wenn die Behinderten - sag ich jetzt absichtlich so - versorgt sind in ihrer Institution und weil wir nicht so sind, sollen sie halt ein bisschen Sex auch noch haben? Oder sage ich: Ich bin für eine gleichberechtigte Teilhabe nach den Wünschen und Möglichkeiten der Person mit Behinderung. Und zwar im Alltag und überall - und nicht in einer abgeschotteten Institution."