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Christian Fuchs

Twilight Zone: Film- und Musiknotizen aus den eher schummrigen Gebieten des
Pop.

19. 12. 2012 - 14:35

Let there be Märchen

Vor 200 Jahren begann der Siegeszug der Brüder Grimm. Diese Woche kommt der märchenhafte Film "Beasts of the Southern Wild" in unsere Kinos. Ein doppelter Anlass für eine Verbeugung vor Schönheit und Schrecken.

Es war einmal eine westliche Mittelstandswelt des 21. Jahrhunderts, die privilegierte Kinder beschützt und behütet. Manchmal sogar ein wenig zu sehr. Übervorsichtige Eltern und vermeintlich fortschrittliche Pädagogen schirmen die lieben Kleinen gänzlich von der bösen Realität ab. Sie verbieten aber auch jegliche Auswüchse der überbordenden Fantasie, wie Märchen oder Fabeln.

Ich für meinen bescheidenen Teil kann nur sagen: Ich verdanke den schrecklich schönen Erzählungen der Gebrüder Grimm, von Wilhelm Hauff und Hans Christian Andersen unglaublich viel. Im Grunde fast alles.

Zum Beispiel auch, dass ich eben jetzt als Journalist diese Zeilen in die Tastatur tippe. Denn ohne den grundlegenden Einfluss der Märchen in jüngsten Jahren wäre ich später nie so intensiv in die dunklen Reiche von Film, Musik und Literatur gekippt, hätte ich wohl keine Bands gegründet, für Horrorfanzines geschrieben, beim Radio oder Printmedien angeklopft.

Nach vielen von mir verschlungenen Interviews mit Regisseuren und Musikern und einem unvergesslichem persönlichen Gespräch mit Dario Argento, weiß ich, dass ich mich in bester Gesellschaft befinde: Zählen die Geschichten von Jacob und Wilhelm Grimm doch zu den essentiellen Inspirationen einiger der spannendsten Künstler.

Eine der finstersten und zugleich schönsten zeichnerischen Interpretationen des Hänsel und Gretel Stoffs kommt vom italienischen Künstler Lorenzo Mattotti. Eine sinistre Weihnachtsempfehlung!

Lorenzo Mattotti: Hansel & Gretel

lorenzo mattotti

Das Chaos im Unbewussten bewältigen

In mein Leben traten viele der Geschichten, die am 20. Dezember 1812 erstmals als "Kinder- und Hausmärchen" veröffentlicht wurden, durch die Stimme meines seligen Vaters. Mit den berühmten leuchtenden Augen folgte ich als kleiner Bub seinen manchmal recht freien Nacherzählungen, die aber auf grimmige Details nicht verzichteten. Ganz vage tauchen in der Erinnerung auch theatralische Szenen auf, in denen mein Vater, unterstützt durch das Licht einer Taschenlampe und mit einem Geschirrtuch verkleidet, etwa die böse Hexe krächzend nachstellte.

Lorenzo Mattotti: Hansel & Gretel

lorenzo mattotti

Kaum im lesefähigen Alter begann ich die verstaubten Märchenbücher, die noch von meiner Großmutter stammten, allesamt zu verschlingen. Ich tauchte neben den Grimm'schen Klassikern (illustriert vom genialen Ludwig Richter) in die unfassbar melancholischen Zonen von Hans Christian Andersen ein, gierte nach den winddurchpeitschten Wäldern in den Märchen von Ludwig Bechstein wie nach den makabren Parabeln des Wilhelm Hauff. Und auch die berühmten Storys aus "1001 Nacht" hatten es mir extrem angetan, Gefangene wurden da wortwörtlich übrigens ebenso wenige gemacht wie bei den deutschen Kollegen.

So grundlegend empfinde ich diesen literarischen Schatz, dass ich natürlich jeden Satz von Bruno Bettelheim unterschreibe. Der große alte Mann der Kinderpsychologie sorgt noch heute für Kontroversen, weil er aus kathartischen Gründen die unzensierten Märchen in all ihrer gewaltsamen Poesie in die Kinderzimmer zurück fordert. Märchen helfen Kindern, so Bettelheim, mit ambivalenten Gefühlen umzugehen, Krisen zu meistern, "das Chaos in ihrem Unbewussten zu bewältigen".

Ein kleines visuelles Delirium sind auch die Bilder von Benjamin Lacombe zu Vorlagen der Brüder Grimm. Mit seinen Schneewittchen-Gemälden möchte man Mädchen- und Buben-Zimmer tapezieren!

Benjamin Lacombe

Benjamin Lacombe

Schneewittchen-Buch

sdgsdg

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Bei einer Lesung in Wien hat Benjamin Lacombe für uns drei Ausgaben von "Schneewittchen" händisch verschönert. Zwei Exemplare verlost morgen Früh die FM4 Morning Show, das dritte gibt es hier abzustauben: Erfinde einen passenden Untertitel für "Schneewittchen", der die besondere Sphäre der Illustrationen von Benjamin Lacombe unterstreicht, und schick ihn uns.

UPDATE: Der Einsendeschluss ist vorbei, gewonnen hat der Untertitel: "Schneewittchen - des süßen Giftes Schlaf". Die Gewinnerin erhält das Buch in den kommenden Tagen per Post.
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Der böse Wolf im Predigeranzug

Die Affinität des Kinos zum Märchen ist uralt, geht an den Anbeginn der Cinematografie zurück und würde wohl Bücher füllen. Schon immer findet man, wie im Bereich der Kinderliteratur, zwei diametral verschiedene Zugänge. Da sind die keimfreien, putzigen Heile-Welt-Geschichten, die die kleinen Zuschauer mit Samthandschuhen anfassen. Und dann gibt es dunkle und bisweilen verstörende Märchen, an der Schnittstelle zum Erwachsenenkino.

Neben direkten Verfilmungen diverser Märchen-Klassiker, von denen übrigens das DDR-Studio DEFA einige der im besten Sinne seltsamsten produzierte (mein erster Kinobesuch ever: eine ostdeutsche "Schneewittchen" Version) und die in den letzten Jahren ein populäres Comeback feierten, geistern auch höchst erwachsene Werke in der Filmgeschichte herum, vollgepackt mit kindlichen Träumen und Albträumen.

Ludwig Richter

Ludwig Richter

Das Schlüsselepos diesbezüglich – und hier bin ich gleich bei einem der besten Filme aller Zeiten – stammt vom Schauspieler Charles Laughton, der für sein Regiedebüt 1955 einen rabenschwarzen Krimi adaptierte. Allerdings transformierte er in "The Night Of The Hunter" die halbwegs realistische literarische Vorlage zu einem unwirklichen Südstaaten-Märchen.

Der genialste Schachzug in "Die Nacht des Jägers" ist die Besetzung Robert Mitchums, der mit der Figur des mordenden Predigers Harry Powell die Rolle seiner Karriere spielt. Die Sümpfe Louisianas verwandelt Laughton zu einer irrealen Märchenlandschaft, die zum Ort einer mythischen Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse, Kindern und Erwachsenen wird. Was als konventionelles Filmprojekt beginnt, gerät zu einem der epochalsten Meisterwerke – und zu einem Flop an den Kinokassen.

Night of the Hunter

Criterion

Manifest für das Menschsein

In der selben Gegend angesiedelt ist auch ein neuer Film, der mit einer Mischung aus hartem Realismus und märchenhafter Unwirklichkeit für Begeisterung und Kontroversen sorgt. Die Apokalypse, sie hat in "Beasts of the Southern Wild" längst stattgefunden. Zumindest für die Bewohner der Sumpflandschaften rund um New Orleans. Seit dem verheerenden Hurricane Katrina hausen die Menschen dort in Notunterkünften, mit dem Wasser, im Wasser, in der Angst vor dem Wasser.

Der junge Regiedebütant Benh Zeitlin (der zuvor auch schon Videos von MGMT produzierte) erzählt vom kleinen Mädchen Hushpuppy, das mit seinem kranken Vater mitten in der Fluthölle von Louisiana lebt. Die dokumentarische Handkamera folgt ihr durch den nasskalten Alltag. Anstatt ein Stück gnadenloser Sozialpornografie zu liefern, zeigt Zeitlin aber auch märchenhafte Visionen des Mädchens und reale Bilder des Glücks.

Beasts of the Southern Wild

Polyfilm

Er kontrastiert das unvorstellbare Elend mit aufwühlender Euphorie. "Beasts of the Southern Wild" will dabei keineswegs die Armut der Sumpfbewohner auf zynische Weise verherrlichen. Nein, dieser grausame, tragische, wunderschöne und magische Low-Budget-Film möchte ein Manifest für den Mut und die menschliche Seele sein.

Symbolisiert wird die unbeugsame Energie durch eine sechsjährige Afroamerikanerin. Quvenzhané Wallis wurde aus tausenden Kandidatinnen ausgewählt und brennt sich mit ihrer genialen Darstellung in die Netzhaut ein. Noch lange im Kopf bleibt auch der hymnische Soundtrack, der an Arcade Fire und Beirut erinnert.

Beasts of the Southern Wild

Polyfilm

Wo die wilden Kinder wohnen

Once upon a time: A Grimm Reality Check
Once upon a time, in a land not that far away, there lived two academically gifted brothers who used their linguistic skills to gather European folklore and create stories that still resonate and are more popular than ever 200 years after they were first published.
Celebrating the bi- centennial anniversary of the politically-charged, sociologically-poignant, and historically-relevant stories as written by the Brothers Grimm, FM4 offers a very special holiday-season story-hour-"Once Upon a Time: A Grimm Reality Check".

Zu hören diesen Samstag um 12:00 mit Riem Higazi.

So wie sich Hushpuppy in "Beasts of the Southern Wild" ein Reich voller wilder Fabelwesen imaginiert, flüchtet die kleine Ofelia in "Pan's Labyrinth" aus dem Horror des Spanischen Bürgerkriegs in bizarre Tagträume. Guillermo del Toros stockdüsteres Erwachsenenmärchen verknüpft Fantasy-Grusel mit politischem Grauen.

Filme über bedrohte Kinder, die sich in die eigene unbegrenzte Fantasie zurückziehen, berühren das Kino in seinen Grundfesten. Denn auch der dunkle Vorführsaal, da ist sich Guillermo del Toro mit Dario Argento und David Lynch einig, ist natürlich ein zentraler Zufluchtsort für irrationale Sehnsüchte. Mir fallen dazu auch so unterschiedliche Streifen wie "The Fall", "Tideland" oder "Big Fish" ein, in denen das Abgründige stets mit dem Zauberhaften verknüpft ist.

Einer der mitreißendsten Versuche, das Kinder- und Erwachsenenkino zu vereinen, stammte zuletzt von Spike Jonze. Mit seiner Verfilmung des Kinderbuchklassikers "Where The Wild Things Are" faszinierte und berührte der Regisseur sämtliche Altersstufen. Weit weg von den glattgebügelten Konsensproduktionen Hollywoods verschmilzt Jonze den ungefilterten Blickwinkel eines neunjährigen Buben mit einer mysteriösen Fabelwelt.

All diese Gänsehautfilme, von denen sich ein Bogen zurück zu den Brüdern Grimm & Co. spannen lässt, geben Bruno Bettelheim recht. Kinder brauchen Märchen. Und wir Erwachsenen natürlich ebenso.

Where The Wild Things Are

Warner Bros