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Philipp L'heritier

Ocean of Sound: Rauschen im Rechner, konkrete Beats, Kraut- und Rübenfolk, von Computerwelt nach Funky Town.

16. 12. 2012 - 15:30

Enter the Void

Das englische Duo Raime demonstriert mit seinem Debütalbum wie denn die Trostlosigkeit der Eis- oder gerne auch Asche-Wüste in Sound übersetzt klingen könnte. Finstere Musik für finstere Zeiten.

Den hoch gesteckten Erwartungen für ihr gemeinsames Debütalbum begegnen Tom Halstead und Joe Andrews mit betont ausgestellter Gelassenheit und der Ruhe eines Menschen, der überhaupt nichts mehr beweisen muss oder will. Der lang herbeigesehnte und vor kurzem erschienene, erste Longplayer ihres Projekts Raime bemüht sich erst gar nicht den von nicht wenigen Seiten in die zwei Engländer hineinprojezierten Genieverdacht durch eine atemberaubende Schichtung und Aufeinanderstapelung von Soundideen und abenteuerlichen Wendungen zu untermauern, nein, das Album mit dem ehrfurchtgebietenden Titel "Quarter Turns Over A Living Line" feiert in gerade einmal schlanken 38 Minuten eine ewige zähflüssige Antiklimax.

Es ist ein grauer Sirup, in dem selten etwas passiert, es kaum knallt und es nur leise brodelt. Langweilig ist das aber nicht. Es ist Zeit, den Kopf langsam zu drehen und auf schmerzliche Introspektive und die Seelenreinigung durch spitze Flammen zu warten.

Raime

Raime

Raime

Raime haben in den letzten zwei Jahren drei hervorragende EPs beim eigens für sie gegründeten englischen Label Blackest Ever Black veröffentlicht - hinsichtlich Soundvision und ästhetischer Präsentation einem der spannendsten und am schärfsten konturierten Labels der jüngeren Vergangenheit. So sind sie, wie schon hier und auch anderswo des öfteren erörtert, neben Acts wie Demdike Stare, Vatican Shadow oder The Haxan Cloak und einigen mehr zu Mitbeförderern einer seit kurzem durchaus wieder als "fashionable" dastehenden Tendenz zu eisenschwerer Härte und Kälte geworden.

Junge und mitteljunge Menschen schrauben und schweißen hier in schlecht ausgeleuchteten Stuben an primär elektronischen Neudeutungen von garstigem Postpunk und Industrial der späten 70er und frühen 80er, durch’s notdürftig vernagelte Dach tropft der saure Regen. Mit anderen Musiken, die sich auf die eine oder andere Weise ebenfalls auf diese Epoche beziehen, wie Electroclash, Dance-Punk oder Franz Ferdinand, hat diese neue Bitterkeit aber nichts zu tun. Man muss ja nicht gleich mit Weltuntergang und allgemeiner Krise herbeiargumentieren - trotzdem ist dies hier Musik für die Stunden im Keller. Getanzt wird eher nicht.

Für das heutige Liquid Radio (00-01h) hat Philipp L'heritier einen Mix durch das Debüt-Album von Raime gebastelt. Und ein paar ältere Stücke des Duos dazwischengestreut.

Joe Andrews und Tom Halstead von Raime sind mit ihren Anfang dreißig Jahren nun auch nicht mehr unbedingt Jungspunde, ihre Lehrjahre haben sie in London in verschiedenen musikalischen Unternehmungen und als Plattendreher zwar nicht gerade weiter erwähnenswert - das sagen sie selbst - aber dennoch ziemlich arbeits- und erfahrungsintensiv zugebracht. Zwar sind sie mit elektronischer Tanzmusik speziell britischer Prägung wie Drum’n’Bass und Jungle aufgewachsen und tragen nach wie vor eine intensive Liebe für derlei Beat-Salven im Herzen, dennoch musste, fast schon unvermeidlich möchte man meinen, irgendwann der Wunsch in ihnen heranwachsen, über die Ränder des Dancefloors und dessen Notwendigkeiten hinauszublicken. Ewige Kreisbewegungen: Der Dance-Producer möchte plötzlich wild wucherndes Experimental-Geknister machen, in dem so gut wie nie ein Beat zuschlägt, auf der anderen Seite entdeckt im Umkehrschluss die total abstrakt zwitschernde Krautrock-Combo den Dancefloor für sich.

Mit nur wenigen kleinen Signalen stellen Raime Verbindungslinien zwischen Zeiten, Musiken und Haltungen her, die, wenn man’s weiß, wohl schon immer da gewesen sein müssen. Raime aber haben sie für ihr Debütalbum aus der Luft gefischt und subtil nachvollziehbar gemacht. Aus den Leerstellen und den finsteren Hohlräumen auf "Quarter Turns Over A Living Line" hallen ewige Echos nach.

Raime

Raime

"Quarter Turns Over A Living Line" von Raime ist bei Blackest Ever Black erschienen

Im Gegensatz zu ihren frühen Stücken, auf denen kleinteiliges Sample-Handwerk auf ausschließlich elektronischer Basis dominierte, haben Raime für "Quarter Turns Over A Living Line" auch verstärkt auf echte, akustische, mit der Hand angreifbare Instrumente zurückgegriffen: Cellos, Schlagzeuger und Percussionisten haben sie ins Studio geholt, eine Gitarre wurde gezupft, ein Klavier betastet. Lieder gibt es freilich aber keine zu hören. Das so in jam-ähnlichen, fast schon bewusst planlosen Sessions aufgenommene Klangmaterial war bloßer Steinbruch, aus dem Raime dann in minutiöser, langwieriger Bastelarbeit erst dunkle Kieselsteine und feinen Sand als Bestandteile für die eigentlichen Tracks herausgearbeitet haben.

"Quarter Turns A Living Line" ist ein langes Dröhnen, ein metallenes Scheppern, eine weite Wüste aus Eis. Manchmal gibt es einen Beat, es ist ein unheilverheißender Schlag ans Hoftor. Auf diesem unscheinbaren Album - es ist ein Album des Jahres - werden Restspuren von Dubtechno und geisterhaftem Ambient im Mark spürbar, es ist ins Leere, ins Negativ umgestülpte Bass Music. Ein schemenhaftes Phantom von Jungle und böse Ahnungen von ins Fleisch schneidender Noise- und Drone-Musik sprechen gleichermaßen aus dieser Platte. Der Minimalismus an sich ist weder schlecht noch gut, hier aber war nach den aufwendig gestalteten EPs für Raime die Reduktion der richtige Schritt. Selten wurde mit so wenig so viel so niederschmetternd schön gesagt.