Erstellt am: 19. 12. 2012 - 18:19 Uhr
Try to be Mensch
Manchmal weiß man erst, wie wenig man etwas mag, wenn es sehr geballt auftritt. In diesem - sehr speziellen - Fall geht es um Sätze in Klammern. Mehrmals vergewissere ich mich, dass die "In einer Person"-Ausgabe, die ich in Händen halte, nicht vielleicht ein noch nicht endgültig redigiertes Exemplar ist. Bis zu drei Sätze in Klammer pro Seite finden sich allzu oft in John Irvings neuestem Roman. Ich kann sie nicht ausstehen, die Sätze in Klammern. Generell, nicht nur bei Irving.
Sie sind drangepappte Ergänzungen oder kurze Verweise auf spätere Geschehnisse und erst in der Mitte des Buches wird mir klar, was sie bewirken. Weil man Irvings Romane nicht liest, sondern eben eher Alice im Wunderland-mäßig in ein Kaninchenloch fällt und sich eine neue Welt öffnet, sind die Klammersätze eine Erinnerung daran, dass man liest.
Sie funktionieren also wie ein Voice Over in einem Film. Sie reißen einen kurz aus dem Erzählstrom, verweisen ganz stark auf den Ich-Erzähler und auf dessen Beruf. Billy Abbott ist nämlich Autor, "In einer Person" ist seine Lebensgeschichte und die Sätze in Klammer erreichen, dass man sich von Billy persönlich beiseite genommen fühlt, mit zusätzlichen Informationen versorgt. Klammersätze mag ich nach 720 Seiten noch immer nicht, aber sie erreichen in "In einer Person", dass ich mich so fühle, als würde Billy mir gegenüber sitzen und seine Geschichte genau jetzt und nur mir erzählen.
diogenes
New Hampshire
Und diese Geschichte beginnt, wo so viele von John Irvings Geschichten ihren Ursprung oder ihr Ende haben: in New Hampshire. Hier wächst Billy in den 1950er Jahren auf, in einer klassisch dysfunktionalen Irving-Familie. Der Vater abwesend, die Mutter puritanisch, der Stiefvater anziehend, Oma ein Biest und Opa trägt Frauenkleider nicht nur gern auf der Laienbühne des Theaters. Auf dieser Bühne werden in "In einer Person" Stücke von Shakespeare, Ibsen und Tennessee Williams aufgeführt. Und leidenschaftlich diskutiert.
In den Figuren der Theaterstücke spiegeln sich Wünsche und Schlamassel der Personen aus Irvings Roman wider. Ein Zitat aus "Richard II" formuliert das Grund-Dilemma vieler Figuren: "Thus play I in one person many people, / And none contented.". Mehr als nur zwei Seelen, wohnen, ach, in all diesen Brüsten. Und apropos Brüste, die interessieren Billy auch brennend, genauso wie Penisse, mit deren Aussprache er allerdings Probleme hat. Macht nichts, sagt seine Sprachlehrerin, "Penisse" wirst du schon nicht so oft in den Mund nehmen. Das wird er aber. Wörtlich und weniger wörtlich, denn der bisexuelle Billy Abbott wird zum Autor, der sich in seinen Romanen mit Sex auseinandersetzt.
Miss Frost und Dickens
Den Wunsch, Schriftsteller zu werden, hat Miss Frost in ihm geweckt, und nicht nur das. Die Bibliothekarin mit den großen Händen und den kleinen Brüsten ist die Initialzündung von Billys sexuellem und intellektuellen Erwachen. Sex und Literatur sind die leidenschaftlich behandelten Kerne von "In einer Person". Irving fabuliert in gewohnt fantastischer Manier eine Geschichte darüber, wie uns die Dinge prägen, die wir begehren. Im Fall von Billy ist das ein schöner, aber grausamer Jüngling names Kittridge und eben Miss Frost, die ihm Charles Dickens' "Große Erwartungen" empfehlen wird. Und damit sein Leben entscheidend beeinflussen wird. Auf die Frage nach dem Buch, das sein Leben verändert hat, antwortet auch Irving mit "Great Expectations".
Thimfilm
Und nicht nur den Dickens-Einfluss haben Autor und Figur gemeinsam. Billy Abbott und John Irving teilen sich Geburtsjahr und -ort, den Beruf und eben einschneidende Erlebnisse mit Charles Dickens' Romanen. Nach autobiografischen Sprengseln in seinen Romanen zu suchen, gehört bei John Irving genauso dazu, wie in seinen Büchern nach Bären und Hunden Ausschau zu halten. Die größte Gemeinsamkeit zwischen den beiden ist aber wohl die Wut. Über "republikanische Höhlenmenschen" und "homohassende Arschlöcher". Irvings Wunsch für die Welt, wie er in "Letzte Nacht am Twisted River" formuliert wurde - "Die Konservativen sind eine aussterbende Spezies, sie wissen es nur noch nicht" - gilt auch für "In einer Person".
Sexual Misfits
Der letzte Satz, mit dem John Irving bekanntermaßen immer mit dem Schreiben beginnt, ist in diesem Fall die Wiederholung eines Satzes, der schon an früherer Stelle fällt. Der schlichte Wunsch, nicht in Schubladen gesteckt zu werden. Mit seiner bisexuellen Hauptfigur, offenen und versteckten Homosexuellen, Transsexuellen und Transgender-Personen schafft Irving einen Chor, der einem aus dem Buch entgegenbrüllt, die scheinbare Wichtigkeit von derartigen Zuschreibungen endlich hinter uns zu lassen. Es geht nicht nur um Toleranz, es geht Irving auch darum, dass die sexuellen bzw. geschlechtlichen Zugehörigkeiten nicht das einzige - und nicht das wichtigste - sind, was eine Person ausmacht.
All seine Romane sind Balladen von sexual misfits, wie Irving es formuliert, und es sind Werke, die weit über den Tellerrand der "Normalität" hinausblicken. So dringlich und ausformuliert wie in "In einer Person" war das Plädoyer für mehr Toleranz aber noch nie. Die Geschichte des Billy Abbott ist eine Abrissbirne von Vorurteilen in Form eines opulenten Romans, der sich fast sowas wie einen Insider-Witz erlaubt. Denn all die Irving-Motive sind da: Der abwesende Vater, dominante Frauen, tragische Unfälle. Nur mit Bären sind diesmal nicht die Tiere, sondern die bärtigen Männer in einer Madrider Schwulenbar gemeint. Europa ist bei Irving - zumindest im Roman, in Interviews diagnostiziert Irving auch Europa einen Toleranzschwund - immer noch ein liberaler Gegenpol zu den puritanischen USA.
thimfilm
Medizinische Details
John Irvings "In einer Person" ist 2012 in der Übersetzung von Hans M. Herzog und Astrid Arz im Diogenes Verlag erschienen.
Der 70jährige Irving ist nicht nur ein Zampano der Geschichtenkonstruktion, des Zusammenführens von losen Fäden, die er während seiner Geschichten spinnt, er wird auch immer mehr zu einem Chronisten der jüngeren Geschichte der USA. "Owen Meany" widmete sich dem Vietnamkrieg, in "Letzte Nacht am Twisted River" fand 9/11 Eingang und mit "In einer Person" erinnert (sich) Irving an das Aufkommen von Aids in den 1980er Jahren. Sein Hang zur genauen Recherche und zu medizinischen Details macht diesen Teil des Romans zu einem Kehlenzuschnürer. Das abstrakte Schreckgespenst, das Aids zu dieser Zeit noch war, beschreibt Irving ganz genau. Vom trockenen Husten über Pilzbefall, Läsionen, bleigraue Haut, Haarausfall, das Seborrhoische Ekzem, Myelopathie.
Wie John Irving hier eigenen Erinnerungen an verheerende Krankheitsverläufe und den Verlust von Freunden in seine Geschichte einbettet, wie er die von Skurrilität geprägte Irving-Welt auf die echte Welt treffen lässt, ist nur ein Beispiel dafür, dass er ein exzellenter Orchestrierer von Tragik, Komik und Exzentrik ist. Ich kann John Irvings Ringer-Qualitäten nicht beurteilen, als Leserin liege ich ihm seit fast 20 Jahren zu Füßen, festgehalten im Schwitzkasten seiner Geschichten, sobald ich seine Bücher auch nur aufgeschlagen habe.