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Markus Keuschnigg

Aus der Welt der Filmfestivals: Von Kino-Buffets und dunklen Sälen.

10. 12. 2012 - 18:27

Wichtel, extra scharf

Peter Jackson hat Tolkiens Buch "Der kleine Hobbit" zum neunstündigen Kino-Epos ausgewalzt. Und führt ganz nebenbei eine neue Bildschärfe ein.

An meinen Fingern kann ich gar nicht mehr abzählen, wie oft ich die „Herr der Ringe"-Filme bereits gesehen habe. Vielleicht hat mich "The Fellowship of the Ring/Die Gefährten" (2001) in einem besonders verletzlichen Lebensmoment erwischt: damals war ich gerade vom Tiroler Bergdorf (read: The Shire) nach Wien, also die große Stadt im Osten (read: Mordor) gezogen. Es mag sich plump anhören, aber irgendwie schienen sich die unüberwindbar erscheinenden Herausforderungen des Hobbit Frodo Baggins perfekt auf meine eigene Reise, die allerdings nicht wirklich eine Heldenqueste war, übertragen zu lassen.

Junger Mann im Baum

Warner

Ich geb's zu: ich war schon ziemlich verliebt in Frodo Baggins. Wenn ich mir jetzt allerdings diese Hobbit-Füße genauer ansehe, dann ...

There and back again

Das ist vermutlich das Erfolgs- und Wirkungsgeheimnis von J.R.R. Tolkiens Generalmythos des 20. Jahrhunderts: ein jeder findet sich darin wieder, in einem oder in mehreren Charakteren, so vielfältig und zutiefst menschlich ist dieser archetypische Figurenfächer entworfen. Und auch wenn die Orte und Entwicklungen düster und hoffnungslos sind, erlaubt Tolkien seiner Welt einen Hoffnungsschimmer, ein bisserl Opium, an dem man sich laben kann, bis zur nächsten Katastrophe. Ich für meinen Teil bin dann im Hype versunken, habe Fast-Food-Restaurants abgeklappert um meine Mittelerde-Plastikfigurensammlung zu vervollständigen, habe sämtliches verfügbares Druckwerk gekauft und verschlungen und Tolkiens Bücher erneut gelesen. Ich konnte die Filmmusik mitsummen (und mitsingen) und weite Strecken der Filme auswendig mitsprechen. Kann ich heute noch.

Seitdem "The Return of the King/Die Rückkehr des Königs" 2003 in den Kinos angelaufen ist und sich im Anschluss eine gravierende Leere in meinem Kinofetisch-Universum breit gemacht hat, warte ich auf eine weitere Tolkien-Verfilmung, auf meine nächste Dosis Wunderland. Es hat lange gedauert. Zuerst waren es nur Gerüchte. Und die wurden von Peter Jackson, also dem Mann, der zehn Jahre an seinem Mittelerde gearbeitet hat, vehement dementiert. Immer und immer wieder. Jenes Tolkien-Buch, nämlich "Der Hobbit", das alle für eine Adaption am geeignetsten sahen (und für das die Rechte einigermaßen geklärt waren) sei zu dünn. Zu lustig. Zu wenig dramatisch. Außerdem wolle er jetzt was anderes machen. "King Kong" zum Beispiel. Was er dann ja auch getan hat.

Also habe ich mich damit abgefunden, dass mein Schatz, frei nach Gollum, alleine bleiben würde. Mit einem Seitenblick auf den Untergang eines anderen Kindheits- und Jugenduniversums, nämlich "Star Wars", versicherte ich mir, dass es die richtige Entscheidung war. Dabei sollte es dann aber nicht bleiben.

Magier in Höhle

Warner

Und wohin geht's jetzt, Meister Gandalf?

Ein Mexikaner und die neue Schärfe

Ein paar Jahre ist’s her, da kam der Name Guillermo del Toro ins Spiel. Und dann krachten meine Synapsen in sich zusammen, bei der Vorstellung, die altmodisch-analoge Monsterliebe des mexikanischen Filmemachers mit Jacksons (der als Produzent und Autor mit an Bord bleiben wollte) Gespür und Talent fürs "epic story-telling" vermählt zu sehen. Es wäre zu schön gewesen, denn nach jahrelanger Vorbereitungszeit, fix und fertig entworfenen Kreaturen, Sets und Waffen zog del Toro aufgrund der anhaltenden finanziellen Schwierigkeiten des Produktionshauses MGM, die das Mega-Projekt nicht durchfinanzieren konnten, den Schluss-Strich, packte seine sieben Sachen und seine Familie und verließ Mittelerde, erm, Neuseeland. Alles wieder auf Anfang also. Peter Jackson kehrt zurück und dreht den Film, den er eigentlich gar nicht machen wollte, da er immer schon fürchtete, diese neue Arbeit würde unweigerlich mit seiner monolithischen "Ringe"-Trilogie verglichen werden.

Mann mit Bild

http://moviecultists.com/wp-content/uploads/2010/05/guillermo-del-toro-the-hobbit.jpg

Guillermo del Toro verabschiedet sich vom Hobbit

Er hatte Recht. Im Sommer, nachdem zehn Minuten Material einigen US-Kinobonzen gezeigt worden waren, trübten Wolken den klaren Mittelerde-Himmel, ganz so, als hätte sich Sauron erneut materialisiert. Kritikpunkt war allerdings nicht der eigentliche Film, seine Handlung, die Dramaturgie oder deren Inszenierung, sondern ein technisches Detail. Obwohl es genau genommen kein Detail ist, sondern Mittelerde vollkommen verändert.

HFR hört sich wie ein abgekürzter Zwergenname an, meint aber "High Frame Rate", also "hohe Bildrate". Und das heißt? "The Hobbit: An Unexpected Journey" ist ungleich der "Ringe"-Filme komplett digital gedreht, und zwar nicht mit den konventionellen 24 Bildern pro Sekunde, sondern mit dem doppelten davon. 48 Bilder pro Sekunde ist das Doppelte an Bildinformation, das pro Sekunde auf das Zuschauerauge trifft und sofort ins Hirn fährt.

Gandalf im Baum

Warner

An diesem Filmstill von Gandalf im Baum sieht man die Wirkung von HFR besonders gut und deutlich: der Frame sieht aus wie gemalt.

Die Abbildwirklichkeit, an die wir uns innerhalb eines Jahrhunderts Kinos gewöhnt haben, existiert darin nicht mehr. Das heißt aber nicht, dass sie schlechter ist. Oder besser. Sie ist anders. Gestochen scharf und unheimlich detailliert. Deshalb erscheinen die Kulissen kulissen-hafter, die Gesichter unwirklicher, die Action wie ein hyperkinetischer Traum. Wenn Jackson mit der HFR einen Hyperrealismus wollte, dann wirkt das Ergebnis genau in die gegenteilige Richtung: da unserem Hirn die Kompetenz fehlt, diese hoch aufgelösten Bilder als filmische Wirklichkeit zu entschlüsseln, stufen wir sie als Unwirklichkeit ein. Das Feuer auf der Leinwand mag lebensechter sein als jemals zuvor, für uns sieht es aus, als hätte es jemand aufgemalt. Ein interessanter Effekt. Ein Lehrstück aus dem "Uncanny Valley".

Gollum

Warner

Gollum lernt die "sneaky little Hobbitses" zu hassen.

Auch Zwerge haben klein angefangen

Von dieser gewaltigen technischen Innovation, die das Potenzial hat, die Art und Weise wie wir Filme sehen, wie Filme auf uns wirken, vollkommen zu verändern, mal abgesehen, ist "The Hobbit: An Unexpected Journey" ein verdammt guter Film und zeigt Peter Jackson auf der Höhe seiner Kunst. Der Neuseeländer ist innerhalb von zwei Jahrzehnten vom Gott des analogen Splatstick zum Papst des digitalen Kinos geworden und beweist, dass man aus einem 250 Seiten starken Buch ein neunstündiges Epos auf die Leinwand wuchten kann, ohne nur Zeit zu schinden. Das werfen Jackson natürlich einige vor, allein schon, da er sich für die Exposition fast eine Stunde Zeit nimmt.

Ähnlich wie in "Die Gefährten" treffen wir auf Bilbo Baggins, der in in Bag End ein beschauliches, unaufgeregtes Genussleben führt, bis sich eben eines Abends eine dreizehnköpfige Gemeinschaft von Zwergen in seiner gemütlichen Hobbithöhle einfindet. Nicht nur plündern die langbärtigen, singenden und rülpsenden Kerle sofort Bilbos Heiligtum, seine Vorratskammer; nein, der nacheilende Magier Gandalf (Ian McKellen) informiert ihn dann auch noch, dass er die Zwerge auf einer Queste begleiten soll. Und so viel weiß auch ein Hobbit: eine Queste ist für gewöhnlich gefährlich.

Hobbit

Warner

Der mutige Hobbit Bilbo Baggins (Martin Freeman)

Diese ist es jedenfalls: immerhin geht es darum, über die Misty Mountains und durch den Mirkwood Forest (mit seinen Riesenspinnen!) zu trekken, bis die Partie die Gegend um den Lonely Mountain erreicht. Darunter befinden sich die Ruinen des einstigen Nabels der Zwergenwelt, der unterirdischen Stadt Erebor. Vor vielen Jahren ist ein Drache aus dem Norden dorthin geflogen und hat die Stadt in Schutt und Asche gelegt, um an die vom Zwergenkönig gehorteten Schätze zu gelangen. Dort haust das Monstrum demnach immer noch, zwischen all dem Gold und Geschmeide; und dort soll es jetzt eben von Bilbo und dreizehn Zwergen gestellt und getötet werden.

Proto-Tolkien

Eine Stunde also hocken wir mit Bilbo und den Zwergen in seiner Hobbithöhle: eine gute Entscheidung, denn darüber gelingt es Jackson diese vielen kleinen Männer voneinander abzusetzen, ihnen einen jeweils eigenen Charakter (nicht allen, aber doch den meisten) zu verleihen. Später ist man dann froh darum, wenn alles drunter und drüber geht und sich nur mehr ein Rauschebart an den anderen reiht. Dann weiß man: der weiße, das ist Balin und Balin, das ist der Zwerg, der in "Die Gefährten" im Sarg tief unten in den Moria-Minen liegt. Ja, schon alles ziemlich komplex.

Zwerge

Warner

Gruppenbild mit Zwergen. Mitte links sitzt Thorin Oakenshield.

"The Hobbit: An Unexpected Journey" schließt atmosphärisch, inszenatorisch und schauspielerisch nahtlos an die "Ringe"-Filme an (wenn man die HFR-Diskussion mal außen vor lässt), der Erzählfluss ist hingegen ein ganz anderer. Während "Die Gefährten" von Anfang an von der Präsenz Saurons und damit von einem eindeutigen, wenn auch körperlosen Antagonisten profitiert hat, müssen sich die Zuseher im "Hobbit" mit einem Drachen zufrieden geben. Schlimmer noch, wirken viele der größeren Action-Sequenzen in Buch wie Film wie kleine, in sich abgeschlossene Episoden, nicht unbedingt wie handlungsrelevante Elemente. Man spürt regelrecht wie sie Tolkien mit dem "Hobbit" allmählich in jenen Bereich des Erzählens vorgetastet hat, der den "Herrn der Ringe" Jahre später zu so einem Meisterwerk hat heran reifen lassen. Auch Peter Jackson sieht hinsichtlich der Struktur Handlungsbedarf: nicht nur baut er viele der Sequenzen aus (die gesamte Stunde in der unterirdischen Goblin-Stadt ist fantastisch!), er fügt auch Elemente ein, die sich nur in den Appendizes vom "Herrn der Ringe" finden. So finden dann auch "Ringe"-Figuren wie Saruman (Christopher Lee) und Galadriel (Cate Blanchett) Eingang in den "Hobbit".

Galadriel

Warner

Galadriel im Mondschein

Das Schwergewicht der Handlung liegt aber auf den Schultern von drei Männern. Thorin Oakenshield (Richard Armitage) ist ehrenwert geerdet als mächtigster aller Zwerge, der versucht, seinem Volk eine neue alte Heimat zu geben und dafür Allianzen wiederzubeleben und Feindschaften zu begraben. Gandalf (Ian McKellen) ist präsenter und schelmenhafter, weil jünger, als in den "Ringe"-Filmen und scheint in seinen Herausforderungen an Bilbo bereits die zukünftigen Geschehnisse und die Ring-Queste zu ahnen. Und dann natürlich Bilbo selbst (fantastisch: Martin Freeman): der unwahrscheinlichste aller Helden, der in der Goblin-Hölle dann auch jenen Ring finden muss, der alle späteren Handlungen dieses Universums in Gang setzt. Dort trifft er auch auf die Kreatur Gollum (Andy Serkis), den heimlichen Sympathieträger von Jacksons Filmen.

Eine erwartbar unerwartete Reise

"The Hobbit: An Unexpected Journey" wirkt wie aus einem Guss. Die meisten Schlüsselkreativen, die am verheerenden Erfolg der "Ringe"-Trilogie mitgewirkt haben, kehren zurück nach Mittelerde. Darunter auch Howard Shore, dessen Kompositionen zwischen "Green Pastures"-Idylle und treibenden, erdigen, teuflischen Beats changieren und der sich hier deutlich offener und verspielter zeigt als in den früheren Filmen. Kameramann Andrew Lesnie lässt seine digitale Kamera im Besonderen in den Action-Sequenzen schwindelerregend durch die Lüfte surren und schafft es insgesamt, das Viszerale in Jacksons Kino zu vermitteln. Und dann ist da natürlich Richard Taylor, der kreative Chef des nicht zuletzt aufgrund ihrer Arbeit mit und für Peter Jackson zum Weltmarktführer angeschwollenen Spezialeffekthauses Weta. Die Rüstungen, Waffen und Kreaturen, die dort wirklich werden, versehen dieses Universum mit einem Grad an Glaubwürdigkeit, der früher undenkbar gewesen wäre.

Trolle

Warner

Die Trolle kochen

Es wird im Lauf dieser Woche viele geben, die meine Meinung nicht teilen. Vermutlich ist ein Backlash zum Prequel zu einem derart erfolgreichen Phänomen wie dem "Herrn der Ringe" unvermeidlich. Und wieso sollte es Jackson anders gehen als Spielberg und Lucas, die für ihre Fortsetzungen zu den "Indiana Jones"- und "Star Wars"-Sagen jeweils öffentlich vorgeführt und abgewatscht worden sind. Ich selbst bin aber schon wieder ganz eingelassen in dieses Mittelerde und warte sehnsüchtig auf den zweiten Film, der im Dezember 2013 in die Kinos kommen wird. Und irgendwann werde ich dann nicht mehr genug Finger haben um abzählen zu können, wie oft ich die "Hobbit"-Trilogie schon gesehen habe. Welcome back, my precious!