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Martin Pieper

radio FM4

Martin Pieper

Ist Moderator und Chefredakteur von seinem Lieblingssender. Hat sein Hobby zum Beruf gemacht.

9. 12. 2012 - 13:44

Die Zeitgeschichte als Kriminalroman

Krimis, die im zweiten Weltkrieg spielen: die beiden Romane "Der Schieber" und "223 oder das Faustpfand" zeigen wie das geht.

Jussi Adler Olsons Krimi "Das Alphabethaus" über eine psychiatrische Anstalt in Nazi-Deutschland war 2012 zu Recht einer der großen Verkaufserfolge im Krimigenre. Für skandinavische und angloamerikanische Autoren sind der zweite Weltkrieg und seine unmittelbaren Folgen als Schauplatz eines Krimis nichts ungewöhnliches. Schriftsteller aus Deutschland und Österreich tun sich da naturgemäß nicht so leicht. Cay Rademacher und Manfred Wieninger haben in ihren aktuellen Krimis versucht, Aspekte des Grauens und der historischen Wirklichkeit mit der klassischen Figur des Ermittlers zu verschneiden. Herausgekommen sind zwei sehr unterschiedliche Bücher, eines atmosphärisch und spannend, das andere wie ein Schlag in die Magengrube.

Cay Rademchaer: Der Schieber

Buchcover

Dumont Verlag

Cay Rademayhers "Der Schieber" ist im Dumont Verlag erschienen.

"Der Schieber" ist der zweite Krimi von Cay Rademacher, in dem Oberinspektor Stave im zerbombten Nachkriegshamburg ermittelt. Ein Junge wird in den Ruinen einer großen Werft tot aufgefunden. Es ist der brütend heiße Sommer des Jahres 1947. Die britische Armee hat die Stadtverwaltung übernommen, ein blühender Schwarzmarkt versorgt die Hamburger Bevölkerung mit dem notwendigsten, Trümmerfrauen, -männer und -kinder versuchen im Chaos einer zerbombten Stadt zu überleben. Der Mord an einem Jungen, der sich mit anderen "Wolfskindern" in der Trümmerstadt herumgetrieben hat, ist jedenfalls nicht erste Priorität für die Staatsanwaltschaft in Hamburg.

Der Autor Cay Rademacher schreibt nicht nur Krimis, sondern ist auch Chefredakteur eines der zahlreichen populärwissenschaftlichen History-Magazine. Vielleicht schafft er es deshalb so gut, das Lebensgefühl in Hamburg 1947 atmosphärisch dicht und packend zu schildern. Fast spürt man den staubigen Schutt der Häuserruinen in die Nase steigen.

Das "Hurra, wir leben noch"-Gefühl der Nachkriegszeit, die Schatten der unmittelbaren Nazivergangenheit und die Verstrickungen jedes einzelnen darin, das alles spiegelt sich in Oberinspektor Stave. Er hat seinen damals blutjungen Sohn zuerst an die Indoktrination der Hitlerjugend und dann an den Krieg verloren. Mit dessen unerwarteter Rückkehr aus der russischen Gefangenschaft gerät das Leben von Oberinspektor Stave zusätzlich aus dem Gleichgewicht. Für Leute mit Kenntnissen der Hamburger Geografie macht die Lektüre von "Der Schieber" wahrscheinlich noch mehr Spaß, für Hamburg-Novizen könnte das Buch ein ungewöhnlicher Einstieg in die Topografie dieser Stadt sein. Die akribische Recherche des 1965 geborenen Autors Cay Rademacher erinnert in ihrem Detailreichtum an angelsächsische Vorbilder von Krimi-Literatur in zeitgeschichtlichem Setting. Und das ist durchaus als Lob zu verstehen. Ein solide-spannender Kriminalplot, ein vielschichtig gezeichneter Ermittler - das alles lässt darauf hoffen, dass "Der Schieber" nicht der letzte Fall von Oberinspektor Stave sein wird.

Manfred Wieninger: "223 oder Das Faustpfand"

Manfred Wieningers Buch "223 oder Das Faustpfand" als Krimi zu bezeichnen, wäre schon fast obszön. Seine Romane rund um den grantelnden Ermittler Marek Miert haben ihn als originellen österreichischen Krimiautor der "Post-Wolf-Haas"-Generation bekannt gemacht. Sein Buch ist zwar mit "ein Kriminalfall" untertitelt, mit harmloser Krimiunterhaltung hat es aber nichts zu tun. Wieninger schildert unerbittlich und präzise das tatsächlich stattgefundene Massaker an einer Gruppe von 223 Juden, die 1945 in der Nähe von Melk unter ungeklärten Umständen erschossen und verscharrt wurden. Das, was vom Genre Krimi übrigbleibt, ist die Figur des Ermittlers.

Buchcover 223 oder das Fauspfand von Manfred Wieninger

residenz verlag

Manfred Wieninger: 223 oder Das Faustpfand, 2012 Residenz Verlag

Der Gendarm Franz Winkler, der eher zufällig mit der Aufklärung des Verbrechens beauftragt wird, ist das fiktive Auge, das uns auf ein ländliches Niederösterreich in den letzen Tagen des Krieges blicken lässt.

Während immer noch große Gruppen deportierter ungarischer Juden von Wien Richtung Westen auf den langen tödlichen Fußmarsch in die österreichischen Vernichtungslager geschickt werden und die Sowjet-Armee schon knapp vor der Grenze steht, versuchen die belasteten Bürgermeister und Bezirkshauptmänner, Richter, Ärzte und Großbauern, sich auf die Zeit "danach" einzustellen. Gendarm Franz Winkler trifft auf Grausamkeit, Opportunismus, Obrigkeitshörigkeit und eine menschenverachtende Bürokratie. Eine Mischung aus Pragmatismus, Gendarmenehre und Humanismus treibt ihn - den Helden wider Willen - dazu, Gerechtigkeit einzufordern, Schuldige zu finden, und die unschuldigen Opfer aus der Anonymität des Massengrabes zu befreien.

Manfred Wieningers Text liest sich wie das nüchterne Protokoll eines Beamten. Das macht das Geschilderte umso schmerzhafter. Der Autor und Journalist hat die historischen Fakten über Jahre gut recherchiert. Er kämpft gegen das Vergessen des ungeklärten Massakers in Persenbeug. Trotz dieses Engagements wird "223 oder das Faustpfand" niemals missionarisch oder moralistisch. Die Kälte der Ausführung des Verbrechens scheint auf den Text abgefärbt zu haben, und doch erlaubt sich Manfred Wieninger das Unerhörte: Er gibt den Opfern ihre Namen und ihre Biografie zurück. Auch bei der ungeheuren Dimension des Verbrechens vergisst der Autor nie, dass es 223 singuläre Leben waren, die in der niederösterreichischen Provinz von einem Rollkommando der SS ermordet wurden. Manfred Wieninger schafft Vergangenheitsbewältigung als Kriminalfall, als Protokoll einer Vertuschung. 223 ist Gegengift zu schwülstiger Nazi-Ploitation wie "Die Wohlgesinnten"“ und Guido-Knoppschem-Nazi-Pathos. Pflichlektüre kann so spannend sein.