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Maria Motter Graz

Bücher, Bilder, Kritzeleien. Und die Menschen dazu.

3. 12. 2012 - 16:00

Sehnsucht und Sex-Tourismus

Selten hat ein österreichischer Filmemacher Frauen über Fünfzig so ernstgenommen wie Ulrich Seidl in seinem "Paradies: Liebe"

Eine Autodrombahn mit Fahrgästen in den Mini-Autos im Stillstand. Und Grete Tiesel vor einer Fototapete mit Palmen. Daraufhin rasen die Autodrom-Fahrzeuge los, gelenkt von Menschen mit geistiger Behinderung. Die Eröffnungsszenen von "Paradies: Liebe" sind gleichsam ein Prolog vor dem Titelinsert, der die Geschichte über Sex, Tourismus und Sehnsucht bestimmt.

Schauspielerin Grete Tiesel ist im ersten Teil von Ulrich Seidls Trilogie „Paradies“ Teresa: eine Frau knapp über Fünfzig, die sich um ihr Umfeld bei der Arbeit und zuhause kümmert, die vieles zurückgesteckt hat. Und nun macht sie sich auf die große Reise: ein Urlaub in Kenia inklusive amouröser Abenteuer mit jungen schwarzen Männern. So die vermutete Hoffnung.

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Seidl zwickt nicht

"Paradies:Liebe" läuft seit 30.11.2012 in den österreichischen Kinos

„Nicht zwicken!“, rügt Teresa einen der jungen afrikanischen Prostituierten und erteilt Anweisungen zum Busen-Petting. Es ist eine der lustigsten Szenen. Sex mit Fremden stellt sich eine leichter vor, als es tatsächlich ist. Ja, „Paradies: Liebe“ ist ein durchaus sehr vergnüglicher Film, denn Ulrich Seidl zwickt nicht. Er stellt seine Figuren nicht aus. Und das ist ein Kunstgriff. Nichts wäre leichter, als auf dem Rücken liegende wohlgenährte Europäerinnen in Bikinis abzukanzeln – umgekehrt aber ist das eine Herausforderung. Ebenso wie jene, das Bild auf die Einheimischen neutral zu halten, die für die Urlauber im Fim die Fremden sind.

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Es könnte eskalieren

Eine der Urlauberinnen findet den schüchternen Barmann attraktiv, weil der so schöne weiße Zähne und Lippen hätte, „like the Meindl Face in Austria!“. Ob der Barmann Speckschwartl zum Amüsement der Frauen sagen könne und Blunzngröstl kenne?
Zwischen naivem Bestaunen und Rassismen taumeln die Äußerungen der Urlauberinnen ohne große Reflexion aus deren Mündern. In den Bildern bleibt Seidl neutral. Übertrieben wirkt nichts, absolut gar nichts, an Seidls Inszenierung eines Ressort-Urlaubs in Kenia. Der österreichische Regisseur hält Zustände fest, und zwar beeindruckend subtil.

Nicht subtil: Die Antwoords "Fatty Boom Boom" über Touristinnen in Südafrika

Es könnte eskalieren. Ein schwarzer junger Mann mit einem Geschenksbandmascherl im Schamhaar strippt für Teresa, als Geburtstagsgeschenk ihrer Urlaubsfreundinnen: „Der gehört jetzt dir und zwar ganz, vom Kopferl bis zum Schwanz“. Und die anderen Frauen bleiben dabei im Hotelzimmer. Der Umgang der Europäerinnen mit dem Kenianer spielt in Andeutungen durch, was sich tatsächlich abspielen könnte und wohl wird beim Geschäft Sex.
Das Spektrum an sexuellen Fantasien ist weit und ausgelebt wird es mit Fremden. Kurz ist da auch Angst. Dass Teresa als Behindertenbetreuerin arbeitet, gibt der Erzählung zusätzliche Spannung. Was, wenn die Umsicht und Nachsicht für andere umschlägt? Es wäre nicht das erste Mal.

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Die weibliche Sicht

Selten hat ein österreichischer Filmemacher Frauen über Fünfzig ernstgenommen und den Fokus auf sie gerichtet. Die Dialoge in „Paradies: Liebe“ strotzen vor Selbstzweifeln und Sehnsüchten. Im Urlaub in der Fremde, da wagt man sich, über selbst und von der Gesellschaft gesetzte Grenzen. Auch, wenn es sich Teresa zuerst nicht zutraut. „Das schaff‘ i‘ nie“ entgegnet sie halb bewundernd einer Bekannten, die von „ihrem“ Kenianer erzählt. „Das schafft dich“, erwidert diese. Teresa bewegt sich immer wieder außerhalb des Urlauberressorts, stapft am Strand umringt von Schmuckverkäufern und geht vor den Schranken der Hotelanlage. Den afrikanischen Prostituierten folgt sie in ihre Dörfer. Dass es um Geld, nicht um Liebe geht, kapiert dann auch Teresa einmal.

Im FM4 Interview Podcast: Ulrich Seidl im ausführlichen Interview mit Petra Erdmann über seinen Film "Paradies: Liebe", die Dreharbeiten in Kenia und was sein nächster Film sein wird.

Ob er denn diese Figur der Teresa mag, hat FM4-Filmredakteurin Petra Erdmann den Regisseur und Produzenten Ulrich Seidl gefragt. Muss ein Regisseur seine Figuren mögen? "Nein, muss ich nicht, aber ich tu es. Mit Abstrichen oder mit kontroversiellen Ansichten", antwortet Ulrich Seidl. "Zunächst einmal ist das ja ein Spielfilm, diese Figur ist geschrieben und wird von einer Schauspielerin gespielt. Aber ich erzähle ja über Problematiken von Frauen, die mich interessieren, sonst würde ich den Film nicht machen."

Ulrich Seidl

EPA FILE/STEPHANE REIX

Ulrich Seidl möchte mit "Paradies: Liebe" mehr, als Frauen als Sex-Touristinnen zu thematisieren. "Zum einen geht es auch um ein Bild unserer Gesellschaft, um die Vereinsamung und die Einsamkeit. Es geht auch um das Bild der sogenannten Schönheit, um ein gesellschaftlich verordnetes Schönheitsideal. Und wenn man dem nicht entspricht oder nicht mehr entsprechen kann - als Frau ist das besonders problematisch -, dann versucht man - und so habe ich es versucht zu erzählen - andere Wege zu gehen, um glücklich zu werden", so Ulrich Seidl.

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Das mag überraschen. Seit über dreißig Jahren macht der sechzigjährige Ulrich Seidl Filme - die weibliche Perspektive fast in einem feministischen Ansatz miteinzuschließen war in keinem bisherigen so sehr der Fall wie in "Paradies: Liebe". Zeit, sich "Models" wieder anzuschauen. Woher kommt jetzt dieses Interesse für diese Frauenfiguren? Seidl wollte schon seit längerem einen Film über Frauen machen, konkret über drei Frauen einer Familie. Es sollte ein Episodenfilm werden, geworden ist es eine Trilogie, "Paradies".

Zwei Teile der Paradies-Trilogie sind bei den Filmfestspielen in Cannes und auch in Venedig im Wettbewerb gelaufen, demnächst dann in Berlin im Februar 2013. Im zweiten Teil, "Paradies: Glaube" wird Maria Hofstätter als missionierende Katholikin begleitet - can't wait -, und den dritten Teil wird ein Teenager im Diätcamp verbringen.

Interviewpodcast

Im FM4 Interview Podcast: Ulrich Seidl im ausführlichen Interview mit Petra Erdmann über seinen Film "Paradies: Liebe", die Dreharbeiten in Kenia und was sein nächster Film sein wird.

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