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Rainer Sigl

Spiel, Kultur, Pop im Assoziationsblaster.

8. 12. 2012 - 15:54

Quietschbuntes Antidepressivum

Das bezaubernd schöne "Fly'N" ist vielleicht das bunteste Spiel des Jahres, fordert aber einiges an Härte.

Wer sagt, dass "gute Grafik" unbedingt fotorealistisch sein muss? In Zeiten, in denen sich die Grafik-Engines der Highend-Titel um die möglichst fotorealistische Ausleuchtung jedes einzelnen Staubkörnchens und jedes Tropfens Schweiß kümmern, glühen zwar die Lüfter auch der hochgezüchtetsten Grafikkarten, aber dem Spieler bleibt bisweilen doch nur der Blick auf braune Ruinenstädte, grimmige Männer im braunen Tarnanzug und staubige Schlachtfelder in 50 Schattierungen von - erraten - Braun. Dass sich vor allem die jedes Jahr aufgelegten neuesten Shooter in ihrer grafischen Perfektion kaum mehr voneinander unterscheiden, ist dem Massenappeal des ewigen Shooter-Einerleis ebenso zu verdanken wie einer gewissen Mut- und Fantasielosigkeit.

Fly'N

Ankama

Farbtherapie

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Umso aufregender, wenn sich andere Spiele der Tatsache entsinnen, dass den Möglichkeiten in Sachen Farbenpracht, Fantasie und Ästhetik eigentlich kaum Grenzen gesetzt wären, wenn man das zwanghafte Streben nach größtmöglichem Realismus mal beiseite lässt. "Fly'N" vom französischen Entwickler Ankama ist so ein Spiel, das ohne Scheu mit den buntesten Farben malt und durch sein außergewöhnliches Artwork begeistern kann. Gerade in Zeiten möglicherweise aufkommender Winterdepressionen ist "Fly'N" ein willkommener Schock Farbe und Frohsinn, der schon allein beim Ansehen die Laune hebt.

Kurzum: "Fly'N" ist wieder einmal ein Spiel, das schon alleine wegen seiner liebevollen Optik Beachtung verdient. Schöner als hier könnten auch die fantasievollsten Kinderbücher kaum illustriert sein, und nicht zufällig weckt der hübsche Plattformer Erinnerungen an das ähnlich liebevoll gestaltete "ScaryGirl" des Illustrators Nathan Jurevicius oder an die Traumwelten von Amanita Games' "Botanicula".

Fly'N

Ankama

Im Weltenbaum

Eine Hintergrundgeschichte gibt es, doch sie spielt eindeutig die zweite Geige hinter dem Rausch aus bunten Farben, originellen Designs und eleganten Illustrationen. Als kleine "Knospe" eines Weltbaums sind wir als Spieler dazu aufgerufen, die Zerstörung dieser Welt zu verhindern, und so springen und gleiten wir in den quietschbunten, aber durchaus anspruchsvollen Levels vorbei an organischen Strukturen, mechanischen Hindernissen und überwinden in wilden Kletteraktionen auf der Flucht vor der rot glühenden Müllwelle eine Vielzahl an Herausforderungen, um schließlich jeweils am Ende einen Bossgegner von unserem Heimatbaum zu vertreiben.

Fly'N

Ankama

Außen hui, innen solide

Obwohl eindeutig die Optik den Hauptreiz von "Fly'N" ausmacht, wird auch spielerisch ein durchaus gelungener Mix aus bekannten und originellen Elementen geboten. Per Tastendruck kann in eine ins Negativ verkehrte Spielwelt gewechselt werden, in der zuvor unüberwindbare Passagen bewältigt werden können und manche Mauern verschwinden. Neben reinen Geschicklichkeitstests wollen auch einfache Puzzles gelöst werden, für die auch zwischen den insgesamt vier verschiedenen Spielerfiguren gewechselt werden muss, die nach und nach verfügbar werden.

Das niedliche Design und der Rausch aus bunten Farben machen "Fly'N" aber keineswegs zum Kinderspiel: Im Unterschied zu "Botanicula" verlangt uns der französische Plattformer durchaus einiges an Fingerakrobatik ab und wird mit zunehmender Spieldauer ganz schön fordernd - wie das ebenfalls visuell außergewöhnliche "LIMBO" richtet sich "Fly'N" keineswegs an optik-verliebte Casual-Schwierigkeitsgrade, sondern will klassisch gemeistert werden.

"Fly'N" ist eines der ersten Spiele, die über Steams Greenlight veröffentlicht wurden. Es ist für Windows erschienen.

Dass man auch als ansonsten nicht dem Masochismus und der Härte von Titeln wie "Super Meat Boy" zugetaner Spieler mit "Fly'N" seine Freude hat, spricht für die visuelle Einzigartigkeit und Kreativität, die in diesem kleinen Spiel steckt. "Fly'N" ist ein erfrischender Beweis dafür, dass beeindruckende optische Erlebnisse auch ganz klassisch im 2D-Plattformer möglich sind. Bunte Spiele gibt es viele, doch kaum eines sieht gerade bewegt so erfrischend fröhlich und schlicht bezaubernd aus wie dieser Augenschmaus. Gerade in der dunklen Jahreszeit kommt dieses virtuelle Antidepressivum gerade recht.