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Clara Trischler Jerusalem

Erzählt an dieser Stelle über israelische Alltagsbeobachtungen.

27. 11. 2012 - 11:06

"Soviel ungelebtes Leben"

Die ersten Tage in Israel und Gaza nach Ende eines Krieges mit neuen Mitteln.

Jedes Starten eines Motorrades klingt wie der Anfang einer vor Raketen warnenden Sirene, sagt der Israeli J.

Was war sonst an diesen Tagen vor Waffenstillstand anders?

Die Menschen telefonierten stundenlang, weil sie einander, immer wenn etwas passiert ist, gegenseitig anriefen, ob alles in Ordnung sei und dadurch eine Panik auslösten, die das Telefonsystem überlastet hat.

Und die Bar, in die J. dann doch gegangen ist, war ganz leer, sie waren nur zu zweit, "but maybe it was just a crap bar, I can't blame everything on the Hamas", lacht er.

Verzierte Straßenwand in Jerusalem

(c) Clara Trischler

Vor vier Jahren, erzählt J., war er als Soldat außerhalb von Gaza stationiert, während es auf beiden Seiten Raketen regnete. Wenn die Explosion in der Nähe passierte, spürte man das am Boden, auf dem man stand.

Vor sechs Jahren lebte er während des Libanonkriegs (im Libanon "Julikrieg" genannt) im nordisraelischen Haifa. Einmal stand er im obersten Stockwerk unter der Dusche, als eine der Sirenen losging, rannte nackt fünf Stockwerke nach unten und versteckte sich unter einem Tisch, während draußen die Welt zu explodierten schien.

ein fenster in einem dunklen stiegenhaus

Clara Trischler

Oder 1991, als er vier Jahre alt war, im Golfkrieg. J.'s Familie hatte einen abgedichteten Raum und alle trugen große schwarze Gasmasken, wenn die Sirenen losgingen.

Seine Eltern versuchten ein Spiel daraus zu machen und J. lernte in diesen Nächten lesen, während er versuchte, nicht an die großen schwarzen Masken und die Welt außerhalb zu denken.

Balkonbilder bekannter Großstadtapokalpysen

Zum ersten Mal seit dem Golfkrieg 1991 ist in der letzten Woche Tel Aviv, und zum ersten Mal überhaupt Jerusalem von Raketen aus Gaza erreicht worden, was wohl an der Waffenversorgung Gazas aus dem Iran liegt.

Facebook-Videos von Tel Aviv'schen Balkonen aus aufgenommen zeigen die Raketen über der Stadt und haben seltsame Parallelen zu allerlei hollywood'schen Großstadtapokalypsen und in einer seltsamen Umkehrwirkung dadurch spürbar konkretes Realitätsgefühl: die der Verletzlichkeit der eigenen Welt, die, dass solche Dinge nicht nur "ausgelagert" weit weg passieren.

Seit Donnerstag, Thanksgiving, herrscht Waffenstillstand in einem ewigen Konflikt der Ambivalenzen, in der die Seite der größeren militärischen Macht gleichzeitig Opfer des ersten industrialisierten Genozids war und die Führung des menschenopferreicheren Gaza sich zu Waffenstillstand als vermummter Sieger, Munition um die Brust geschnallt und Gewehre in den Händen, stilisiert.

Propalästinensisches Transparent in Montevideo, Uruguay

(c) Álvaro González Novoa

Pro-Palästinensisches Transparent in Montevideo, Uruguay am 21. November 2012 © Álvaro González Novoa

Julikriege und Sommerregen

Dass die dieswöchige "Operation Wolkensäule" viel mit den israelischen Wahlen am 22. Jänner zu tun hat, liegt nahe. Auch wenn sich das weder nach den letzten Operationen "Gegossenes Blei" Anfang 2009 und "Früchte des Zorns" im Libanon 1996 positiv für die kriegstreibenden Parteien ausgegangen ist. (Hat jemand Lust, einen Lyrikband mit Euphemismen von Kriegsoperationen herauszugeben? Da gäbe es noch "Operation Sommerregen", "Operation Zorn Gottes", "Julikrieg" und eben "Operation Wolkensäule".)

Fischer und Bauern in Gaza sollen nun wieder mehr Zugang zu ihrem Land nahe der israelischen Grenze erhalten. Vermutlich lässt die Lockerung der Blockade Gazas auch mehr humanitäre Hilfe und Bewegungsfreiheit zu.

Plastikstühle im Abendlicht, Westjordanland

(c) Agnes Prammer

© Agnes Prammer

Erinnerungen an Geräusche von Flugzeugen

Abeer Ayyoub erzählt vom ersten Tag der Offensive, an dem er wegen der intensiven Bombardierungen über Gaza nicht nach Hause konnte. "I feel this has happened for a reason, it’s either you or us will be killed tonight," sagte ihm seine Schwester am Telefon. "I was really convinced; no one can deny that everything happens for a reason."

Petter Goldstine verbrachte die Sommer seiner Kindheit nahe eines Flottenstützpunktes in San Diego, wo das vertraute Dröhnen Manöver-übender Militärjets zu einer entspannenden Erinnerung wurde. Als er als erwachsener Fotograf im Westjordanland ebendieses Geräusch hörte, wissend, dass diese Militärjets nicht übten, tat er sich schwer, die unterschiedlichen Gefühle, die die Flugzeuge auslösten, zu vereinbaren.

"I guess I realize that all this war stuff is so intellectual for most people. I mean, we know it's happening, and we know it's a bad thing and people are dying. But, most people don't feel it in their bodies. It's nothing more than a thought which disappears when the commercials start. It seems to me, if more people could actually feel, like they do for their children, there would be many more people working for peace and understanding. I think it was that silence I felt while I was standing there motionless that gave way to a sort of understanding. A realization, that there are several realities."

Vier Türen im Freien / Türenverkauf im Westjordanland

(c) Clara Trischler

Türenverkauf im Westjordanland, © Jakob Fuhr

Several realities

Am Ende meines Gesprächs mit J. passiert etwas Seltsames. Ein Stück Fisch fällt plötzlich vor ihm zu Boden, einfach so, aus der Luft. Nach einem Waffenstillstand hat das etwas von der Absurdität von Geschichten Etgar Kerets. Danach setzt er sich auf sein Fahrrad, noch aus Gewohnheit im einen Ohr Musik, mit dem anderen nach möglichen startenden Motorrädern hörend.