Erstellt am: 26. 11. 2012 - 12:16 Uhr
Retro-Alarm
FM4 Artist Of The Week
Jede Woche neu. Heute - anlässlich des 10. Geburtstags von "Turn On The Bright Lights" mit Interpol.
Es muss eine verrückte Zeit gewesen sein, damals, kurz nach der Jahrtausendwende in New York. Die Stadt, auf die spätestens nach 9/11 die Augen der Welt gerichtet waren. Die Stadt, in der das passiert, was du nur aus dem Fernsehen kennst. Ein politischer, kultureller, kommerzieller Kulminationspunkt.
Rund ums Jahr 2000 in der New Yorker Musikszene unterwegs gewesen zu sein, ja, das wär was, woraus sich heute Bestseller machen ließen. Aus einer Ursuppe haben sich da plötzlich Musiken und Sounds entwickelt, von denen wir zehn Jahre lang gezehrt haben.
Einerseits hat sich die Rockmusik neu erfunden. The Strokes haben die Lo-Fi-Ästhetik zurück gebracht. Die Yeah Yeah Yeahs haben der brav gewordenen Indieszene Punk-Attitüde zurückgebracht. Und nebenbei hat mit DFA und Acts wie The Rapture der Weg für Erfolgsgeschichten wie dem LCD Soundsystem begonnen.
Genau in diese Zeit fällt die Gründung der Band Interpol. 1998 gegründet, 2002 ist endlich das Debütalbum fertig. Und was für eines.
Matador / Sean McCabe
Turn On The Bright Lights
Turn On The Bright Lights. Schlichte Eleganz, schwarze Anzüge, minimalistische und düster-romantische Atmosphären. Der strenge Gegenpol zu den damals wuchernden Rotzlöffel-Gitarrenbands.
Die original FM4-Review des Albums am 04.11.2002 von Christian Fuchs.
Sänger Paul Banks, Bassist Carlos D., Gitarrist Daniel Kessler und Drummer Sam Fogarino haben mit diesem Album ein Universum erschaffen, dem sie mit kleinen Veränderungen bis heute treu geblieben sind.
Ein Universum, das den Zeitgeist 2002 nicht nur trifft, sondern entscheidend mitgestaltet. Die Welt ist böse und schlecht und steuert dem Untergang zu. Auf dem Weg dorthin wollen wir zumindest gut aussehen. Und eigentlich - sind wir uns ehrlich - verdient uns diese schlechte Welt gar nicht. Das alles vor dem Hintergrund, dass Gitarrenmusik mit Breitwandspektakel der Marke Limp Bizkit an einem ziemlich toten Ende angekommen ist und sich die Indie-Szene in Niedlichkeiten verliert.
Heute, zehn Jahre später, ist Turn On The Bright Lights ein Klassiker. Und Interpol eine Referenzband, an der Musikfans andere, neue Bands messen.
Umso interessanter, sich die Kritiken aus dem Jahr 2002 vor Augen zu führen. Viele Vergleiche mit Joy Division gab es da, die zwar nicht völlig aus der Luft gegriffen sind, aber aus heutiger Sicht etwas befremdlich anmuten. Jetzt, im Nachhinein sind Interpol eben Interpol, und nicht eine neue Band, die es erst zu sezieren, zu beschriften, auf kleinen Stecknadeln aufzuspießen und feinsäuberlich in Reagenzgläsern im großen Apothekerschrank der Musikgeschichte zu verstauen gilt - Abteilung "Achtung Hype! ", Unterkategorie "Was mit Gitarren aus New York, eventuell sogar Post Punk".
Tenth Anniversary Edition
Zum zehnjährigen Bandjubiläum wird das Debüt "Turn On The Bright Lights" neu aufgelegt. Ein ganzes Package aus zwei CDs und einer DVD. Eine CD mit unveröffentlichten Songs aus der Zeit, in der auch das Album entstanden ist, mit Demo-Versionen und Versionen aus den Peel-Sessions. Eine DVD mit Videomaterial und den Clips.
Zeitreisentipp: Die Top 100 Alben der Nullerjahre auf FM4.
Und da ist natürlich die Original-CD mit den Titeln von damals: Das wütende PDA, das epische Stella, die beiden Obstacle, der erste Hit NYC. Oder: wie sich viele vielleicht besser erinnern: Track 4, Track 8, Track 2, Track 7, Track 3. Denn von ein paar Ausnahmen abgesehen haben die Titel der Interpol-Songs wenig mit dem Text zu tun. Roland könnte etwa genauso gut Mein Liebling Kuku heißen, und es wäre (zumindest für mich) genauso passend.
Der Text: überhaupt ein Streitpunkt in der Interpol-Geschichtschreibung. Die einen halten Sänger Paul Banks für einen brillianten Lyriker, der assoziativ kleine, persönliche Momentaufnahmen konstruiert. Die anderen halten seine Texte für blanken Unsinn, pseudointellektuelles Gewäsch, das es nur deswegen gibt, weil sich irgendwer die Konvention überlegt hat, "la la la" wäre zu albern für einen Popsong, der was auf sich hält.
Niko Ostermann
Zehn Jahre Interpol
Wenn Turn On The Bright Lights also der Flächenwidmungsplan für die Stadt namens Interpol ist, dann werden in Antics, dem zweiten Album zwei Jahre später, die Sehenswürdigkeiten errichtet. Das Album bringt stilistisch nichts neues, aber statt heimlichen, angedeuteten Superhits sind Interpol hier am Gipfel ihres Songwritings. Ein Album, das an den zaghaften und schlichten Momenten des Debüts keinen Verrat begeht, aber die Band dennoch in Headliner-Regionen der großen Musikbusinessmaschinerie spült. Slow Hands, Evil, Narc, Not Even Jail. Wer mit Interpol bis dahin noch so gar nichts am Hut hatte, findet hier seine Einstiegsdroge.
Die beiden bislang letzten Interpol-Alben Our Love To Admire und das sehr nach "Mission ausgeführt" klingende Interpol vervollständigen den Flächenwidmungsplan von 2002. Die Stadt ist zu Ende gebaut, die Geschichte zu Ende geschrieben.
Aufgelöst hat sich die Band dennoch nicht. Der stilprägende Bassist Carlos D. ist zwar nach Interpol ausgestiegen, doch vielleicht macht sich die komplette Band ja auch daran, eine zweite Stadt zu errichten.
Paul Banks ohne Band
Einstweilen hält sich Sänger Paul Banks mit Fingerübungen warm, die er als Solokarriere tarnt. Zunächst ließ er seine Kunstfigur Julian Plenti ins Rampenlicht treten. Julian Plenti is Skyscraper heißt das Album, das er etwa zeitgleich mit der bis dato letzten Interpol-Veröffentlichung herausbringt. In Ermangelung einer Band zimmert er da selbst an Beats und Loops, versucht sich als Produzent. Überkandidelt im Ideenreichtum, durchaus lo-fi in der Umsetzung. Und im Interview mit FM4 gibt er bei Christian Lehner zu, was sich viele bereits zu Interpol-Zeiten gedacht haben: "Manchmal muss ich mich dazu zwingen, der Melodie einen Text hinzuzufügen, weil die Musik schon genug Aussagekraft besitzt."
Paul Banks probiert als Julian Plenti alles das, wofür ihm die Interpol-Stadt zu klein erscheint. Produktion, rundum geändertes Outfit als bewollmützter Professorenwestenträger, dazu weniger strenges Songregime als befreites Basteln und Jammen mit sich selbst. In ihrer scheinbaren Beiläufigkeit wären Songs wie Only If You Run tatsächlich schwer als Interpol-Songs vorstellbar.
Matador Records
Hier und Jetzt
Der bislang letzte Streich der Interpolfamilie dann, das schlicht mit Banks betitelte Solo-Album, das Paul Banks unter seinem richtigen Namen veröffentlicht. Ein verwirrendes Album, ist es doch schon wieder ganz anders als Interpol, und wieder ganz anders als Julian Plenti. Mit düsteren Synthies und überraschenden Song-Wendungen. Oft ersetzt introspektiver, grantelnder Plauder-Sing-Sang die sonst so wuchtvoll eingesetzte Baritonstimme. So sehr Interpol sich stilistisch treu geblieben ist, so viele unterschiedliche Facetten zeigt Paul Banks in seinen Solostücken.
Warum? Weil er der Kritik beweisen will, dass er, Banks, ein vielseitigerer Musiker ist als er bei Interpol zum Ausdruck bringen kann? Weil er auf der Suche nach seiner Identität ist? Ganz einfach, weil er's kann? Wird es mit Interpol weitergehen? Werden wir Carlos D. wieder in der Band sehen?
Konzerttipp: Paul Banks am 3. Februar im WUK in Wien.
Alles Fragen, die wir uns morgen wieder stellen können. Heute freuen wir uns über den Re-Release von "Turn On The Bright Lights" mit Bonus-CD und Bonus-DVD. Oder hören ganz einfach mal wieder Say Hello To The Angels, Hands Away oder eins der anderen zeitlos eleganten Stücke an, die auch zehn Jahre nach ihrer Erstveröffentlichung nicht alt klingen.