Erstellt am: 23. 11. 2012 - 15:13 Uhr
"Anatomie einer Nacht"
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Den Bürgermeister habe sie gefragt, den Fremdenverkehrsminister, den Polizeiinspektor auch. Der Oberarzt im Krankenhaus hat sie rausgeschmissen. Er hat das Gespräch beendet, nachdem Anna Kim das Wort Selbstmord erwähnt hat. Man kann es nachvollziehen. Etwa ein Monat nachdem die Nachricht über elf Suizide, die im Jahr 2008 in ein und derselben Nacht in ein und derselben ostgrönländischen Stadt geschehen sind, durch die internationale Presse gegangen ist, ist Anna Kim an ebendiesen Ort gereist, um eben darüber zu recherchieren.
Keine Rekonstruktion der Ereignisse
Suhrkamp Verlag
Erklärung gibt es keine. Anna Kim rekonstruiert in "Anatomie einer Nacht" nicht die Gründe für den Abschied, sie berichtet vom Leben in der Welt. Von Keyi zum Beispiel, der aus der Einsamkeit Ostgrönlands wegzieht und sich in Kopenhagen verliebt, um dort festzustellen, dass er einsam bleibt. Er, der dreckige Eskimo, wie er genannt wird. Er kehrt zurück in den fiktiven ostgrönländischen Ort Amaraq, wird obdachlos, verschwindet mehr oder weniger unbemerkt, so wie die elf anderen, von denen "Anatomie einer Nacht" erzählt. Manche von ihnen gehen in der Landschaft rund um Amaraq verloren, das Anna Kim als einen von der Welt entrückten Ort beschreibt, von einer Schönheit, die sich unzugänglich, wie sie ist, den Blicken eher entzieht als präsentiert. Eine Schönheit, die die Augen ständig in die Irre führt.
Da Anna Kim nach dem Ereignis im Krankenhaus nicht mehr explizit fragen konnte und wollte, hat sie "rundherum" gefragt, Geschichten gesammelt. Denn es gibt, so die Autorin, in Ostgrönland praktisch keine Familie, in der es nicht mindestens einen Suizidfall gibt und daher war ihr klar, dass sie früher oder später auf einen treffen würde.
© Sven Paustian
Die Geschichten, die sie auf diese Art und Weise gesammelt hat, verwebt sie assoziativ, oft weiß man nicht genau, womit eine Geschichte beginnt und wo sie endet, man weiß nicht immer, welche Familienbande wie miteinander verstrickt sind, aber egal, so spannend sind die Geschichten erzählt, so unaufdringlich schön ist die Sprache.
16 Hauptpersonen sind am Anfang des Buches aufgelistet, elf davon werden sterben. Man lässt sie nicht leichtfertig ziehen, aus dieser Nacht in Amaraq, wo es eine Disko gibt, vor der Menschen Schlange stehen, wo die Dunkelheit, der Schnee und alte Mythen den Zustand der Seelen bestimmen, wo ein Waisenhaus in Flammen aufgeht und wo nach Robben gejagt wird. "Anatomie einer Nacht" ist ein sanftes, manchmal poetisch entrücktes Buch über das Leben, das vor dem Sterben kommt.