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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

15. 11. 2012 - 21:57

Fußball-Journal '12-44.

Der ÖFB im Jahr 1. Die Koller-Bilanz.

Auch in der aktuellen Saison begleitet das Fußball-Journal '12 (wie schon in den Vorjahren) die heimische Bundesliga, den Cup, Nationalteam und ÖFB, den Nachwuchs, das europäische Geschäft und das mediale Umfeld.

Heute mit dem ersten Teil einer Ganzjahres-Bilanz. Diesmal: das ÖFB-Team unter den neuen sportlichen Führung.

Ähnliches hat Kollege Tom Schaffer hier getan.

Hier noch drei kluge Nachlesen zum gestrigen Spiel gegen die Cote d'Ivoire: einmal abseits, einmal ballverliebt, einmal laola1.

Und obendrauf hier noch eine herrliche taktische Happel-Würdigung auf spielverlagerung.de.

Die Länderspiel-Bilanz des ersten ÖFB-Jahres unter Marcel Koller bringt Antwort auf die ewigen und großen Fragen: Wer sind wir? Woher kommen wir? Wohin gehen wir?

Quod licet Van Gaal, non licet Constantini

Louis Van Gaal ist ein selbstverliebter und selbstherrlicher Fußball-Trainer mit großen Meriten. Und großen Erfolgen. Aktuell hat er in einem Interview nicht nur erklärt, dass er zu den vier größten Coaches der Gegenwart zählt (die anderen wären Fergueson, Del Bosque und Mourinho), sondern auch begründet, warum der aktuelle Erfolgslauf des FC Bayern München (auch) auf seine Kappe ginge, obwohl er ihn schon seit einiger Zeit nicht mehr coacht. Die Mannschaft spiele immer noch sein (gegen den Widerstand der allmächtigen Bayern-Krake Hoeneß druchgesetztes) System; zentrale Spieler (Schweinsteiger, Lahm, Müller, auch Alaba) würden immer noch auf den Positionen agieren, auf die er sie (gegen den Willen der Krake und anderer) gesetzt hatte. Zudem habe die deutsche Nationalmannschaft das Bayern-System (recht erfolgreich) kopiert - und entwickelt sich erst jetzt den nächsten Schritt weiter.

Dietmar Constantini ist ein selbstverliebter und selbstherrlicher Fußball-Trainer ohne große Meriten. Erfolge konnte er als kürzestfristige Feuerwehr und Assi verbuchen, als Nationaltrainer ist er kapital gescheitert. Aktuell hat er sich in einem Interview zum Säer dessen, was Marcel Koller nun erntet, erklärt. Seine (einzige) Begründung: er habe Alaba "geholt". Mehr hat er nicht anzuführen. Gut so: denn in punkto System oder Spielerentwicklung hat er jahrelang ja nichts geleistet. Immerhin lügt er uns bei Alaba, dessen Einberufung einfach nicht zu vermeiden war, nichts von "gegen alle Widerstände" vor.

Raus aus der entwicklungsresistenten Selbstreferenzialität

Der Unterschied zwischen Van Gaal und Constantini erzählt uns alles über den Stand bei der A-Mannschaft des ÖFB von vor einem Jahr; von vor Koller.

Der eine koffert und begründet das - und man kann auch da dann noch drüber streiten ob berechtigt. Der andere koffert ohne jegliche Substanz und somit ohne jegliche Berechtigung.

Der eine repräsentiert einen international gültigen Trainer-Ethos, der auf Wachsen & Wirken, auf Erkennen & Lernen fußt. Der andere repräsentiert das Old-School-Trainerwesen in Österreich, das sich aus reiner Selbstreferenz herleitet. Und deshalb zwangsläufig lern- und entwicklungsresistent war; und in großen Teilen immer noch ist.

Alles, was Marcel Koller (und große Teile seines von ihm bestellten Teams) im Aufräumungsjahr nach der Verheerung des Systems Constantini unternommen und angegangen sind, ist in diesem Licht zu sehen. Und im Vergleich leuchtet jede einzige Detail-Maßnahme wie ein Diamant.
Man kann jetzt anmerken, dass das nicht so schwer ist.
Stimmt.
Trotzdem musste das erst einmal passieren.
Trotzdem muss sich jemand erst einmal daran machen die Mindeststandards zu installieren.
Trotzdem muss jemand die verbalisierten Notwendigkeit erst einmal mit Taten realisieren.

Herrn Kollers Gespür für den sanften Drall

So einfach (und so bitter) ist der Kern der Koller-Bilanz: das ÖFB-Nationalteam ist dank seiner Arbeit in einem Bereich angekommen, der davor über Jahre hin einfach nicht herstellbar war und von gruseligen Blendern und am Gemeinwohl desinteressierten Selbstdarstellern be/verhindert werden konnte: in der europäischen Realität.

Dass das keineswegs eine Selbstverständlichkeit ist, kann man schon eine Etage drunter, bei der U21-Nationalmannschaft erkennen. Die dient/e als Spielfläche für frustrierte Ex-Internationale oder frustrierte Ex-Liga-Coaches, die der selbstreferenziellen Old-School-Moral anhängen.

Der Drall, den Koller dem A-Team verliehen hat, war ein vergleichsweise sanfter, aber wirkungsvoller.
Auf mehreren Ebenen.
Da wäre zuerst eine deutlich sorgfältigere und behutsamere Personalpolitik zu nennen: Koller nominiert (grosso modo) nach Leistung und Potential, während sich die austriakischen Vorgänger in Gusto und medialen Vorgaben verloren.
Dann verstehen Koller und sein öffentlich stummgeschalteter Co Fritz Schmid etwas von modernem Teambuilding. Resultat: keine einzige Absage beim letzten Testpiel.
Die wichtigste Neuerung war aber die erstmals seit Äonen durchgeführte sachlich-fachliche Arbeit in den Bereichen Strategie und Taktik. Koller entwickelte zunächst (nach leisen Zurufen von Sportdirektor Ruttensteiner) eine Philosophie, nach der das A-Team leben, trainieren, denken und handeln soll. Danach entwickelte Koller ein favorisiertes Spielsystem, das sich taktisch an den jeweiligen Gegner angepasst umsetzen lässt.

Das individualisierte 4-4-1-1 und seine Entwicklung

All diese nötigen Schritte, die in der Alltagsarbeit in einem Verein ein paar Wochen, vielleicht ein paar Monate brauchen, sind in einem selten zusammengezogenen Verbund wie dem Nationalteam nur mittel/langfristig umzusetzen; und das auch nur wenn alle mitziehen und es günstig läuft. Koller hat es in einem halben Jahr geschafft die Mannschaft aus der kompletten Willens- und Glaubenslosigkeit, aus der totalen Ideen- und Strategielosigkeit auf ein Level zu hieven, für das man sich (auch erstmals seit Äonen) nicht mehr ausredenreich genieren muss.

Der Philosophie des auf die Jugend des Kaders zugeschnittene Schnellig- und Spritzigkeit (die das flotte Umschalten, das forsche Konterspiel und vor allem das harte und hohe Pressing möglich machen) hat Koller zu seinem 4-2-3-1 geführt.

Dass Zlatko Junuzovic, der diesen Job zu erledigen hat, in Bremen einen echten Sechser gibt, kam dem Unterfangen entgegen: erst seit Deutschland ist Juno der versatile Akteur um den herum Koller sein System aufbauen kann.

Dabei orientierte sich Koller aber nicht so sehr am DFB-Team, sondern entwickelte ein individualisiertes 4-4-1-1: der zentrale Offensiv-Mann hinter der Spitze ist nicht (wie törichte Mainstream-Medien das annehmen und entsprechend verbreiten) ein Spielmacher oder Zehner wie Özil, sondern der vorderste Presser, also ein laufstarker Spieler, dessen primäre Aufgabe das Anbohren der gegnerischen Defensive ist.

Die echten Spielgestalter sind die beiden Hybrid-Sechser/Achter dahinter, die Positionen, die zunächst Alaba und dann auch Kavlak zuletzt so effektiv auszudefinieren verstanden. Die beiden offensiven Außenspieler sind im (gestern nicht vorhandenen) Optimalfall echte Flügelstürmer, die von den Außenverteidigern gedoppelt werden sollen. Ganz vorne changiert Koller zwischen der Methode Janko (Brecher, Prellbock, Verwerter) und der Methode Harnik (Stürmer, der mit Tempo in den Strafraum reinfährt).

Warum der Plan B noch nicht da sein kann

Dieses Koller-System ist ein noch durchaus fragiles. Wenn alle Komponenten funktionieren, wie gegen Deutschland, führt das zu Weltklasse; wenn nichts so recht ineinandergreift (wie gegen die Cote d'Ivoire) dann kann man auch ganz schön abstinken. Praktikabel ist es allerdings gegen jeden Gegner und in jeder Situation. Und das ist Kollers großes Verdienst.

Die von einigen (auch von mir) eingeforderte Alternativ-Variante, also das bruchlose Umstellen auf ein anderes, deutlich druckvolleres System, um im Fall eines Rückstands noch einmal in die Spur zu kommen (da wäre ein 4-1-3-2 ebenso denkbar wie ein 4-4-2 mit Raute) ist nicht in Sicht. Dazu fehlten bislang Zeit und Trainingslager.
Zudem konnte Koller ja auf nichts aufbauen - die Vorgängerschaft hatte strategisches Brachland hinterlassen; die taktische Bildung in der Bundesliga ist in etwa so entwickelt wie die Medienkompetenz an Österreichs Schulen.

Kein Wunder, dass es die Legionäre, die vor allem in Deutschland wesentlich kompetativere Bedingungen haben, leichter haben, in Kollers ÖFB-Team-System zu reüssieren.

Kollers größtes Problem ist seine Zögerlichkeit, was reaktionsschnelle Umstellungen betrifft: er lässt vieles viel zu lange schleifen, wechselt praktisch nie vor der 60. Minute und stellt auch dann wenn es nicht läuft kaum jemals ohne Wechsel um. Das ist allzu österreichisch Dazu kommt noch zwei blinde Flecken: auch Koller nimmt (wie all seine Vorgänger) keine Rücksicht auf die Jugendnationalteams und ihre Begehrlichkeiten für wichtige Quali-Spiele - allerdings spielt ihm dabei ein diesbezüglich inexistenter ÖFB-Generalplan in die Hände. Außerdem präsentiert er seinen 25er-Großkader zunehmend als geschlossenen Bereich - das kann nach hinten losgehen.

Relative Einsicht bisheriger Halbwelten

Interessanterweise hat der inhaltliche Paradigmenwechsel, der von der Branche als solcher erkannt wurde, auch Teile der zu Beginn angesprochenen selbstreferenziellen Halbwelt aus Medien, Experten und Nutznießern erreicht. Dass jemand wie der nicht gerade für inhaltliche Exkurse berühmte ÖFB-Präsident tatsächliches Verstehen der Vorgänge verbalisiert, ist ebenso erstaunlich, wie die vergleichsweise unaufregte Koller-Rezeption bisher unbeeinspruchter Leitmedien-Bullies; vereinzelte Rülpser lesen sich deshalb eher wie Parodien.

Interessanterweise spielt der vor einem Jahr von Old-School-Lobbyisten wie Prohaska angezettelte dumpfe Lokalpatriotismus auch keine gesteigerte Rolle mehr. Neben einem durch seinen Einsatz und seine Arbeit kaum für möglich gehaltenen Imageschub für das Nationalteam, dem sich auch heimische Neorealisten nicht verweigern können, hat Koller auch die Zahlen auf seiner Seite.

Dieses letztlich ganz schon unglaubliche Jahr eins des bislang nicht zu Unrecht als Provinzpossenreißer beleumundeten ÖFB wird natürlich nur dann historischen Wert besitzen, wenn die neue Zeitrechnung nicht durch eine Restauration zunichte gemacht wird. Weshalb dem Jahr zwei des Marcel Koller noch eminentere Bedeutung zukommt als dem, was sich 2012 schon entwickelt hat.