Erstellt am: 14. 11. 2012 - 12:57 Uhr
Birthday Blues
Heute um 17 Uhr 33 Greenwich Mean Time wird die BBC zur exakten 90. Wiederkehr ihrer allerersten Sendung ein eigens zu diesem Anlass in Auftrag gegebenes Stück Musik aufführen, geschrieben und vorgetragen vom immer eindeutiger zum Staatsmusiker aufgestiegenen Damon Albarn.
Seine Komposition basiert offenbar auf ein paar Klavierakkorden, die rund um die auf BBC Radio 4 verlässlich zu jeder vollen Stunde gesendeten (seit Einführung des Digitalradios leider zeitversetzt ankommenden) fünf elektronischen Piepstöne kreisen.
Ich selber kenn die BBC ja schon eine Weile nimmer von innen. Bis Mitte des letzten Jahrzehnts pflegte ich alle zwei Wochen in den von jedem Tageslicht verschonten Tiefen des Broadcasting House in Richtung jenes kleinen Kobels vorzudringen, den ich in meinen Sendungen etwas aufgeblasen die „Londoner Außenstelle“ nannte.
Der Weg dahin führte durch den Maschinenraum der TechnikerInnen, die zwischen rot blinkenden Lichtern, spektakulären Schaltkreisen und von abstrakten Kurven belebten Bildschirmen den London Control Room der Corporation leiteten.

public domain
Dies war nicht weniger als das sendende Herz der BBC, und es fühlte sich damals schon so an, als wäre kein anderer Ort weiter entfernt von jenen abgehobenen Leuten, die die Geschicke jener Organisation lenkten. Selbst wenn die Folgen ihrer visionären Entscheidungen umgekehrt dort immer und überall zu spüren waren.
Zum Beispiel, als mir einmal das Tonband ausgegangen war und mir eine der bisher so freundlichen Damen hinter einem der Schreibtische erklärte, dass sie mir ab sofort gar nichts mehr geben oder borgen dürfe, obwohl ihre Laden vor Bändern übergingen und ich als ORF-Mitarbeiter und somit Teil der europäischen Rundfunkunion stets gratis mit Arbeitsmaterial versorgt worden war.

public domain
Dank einer Direktive von oben war nicht nur praktisch jeder Schreibtisch zur Verwaltung seines eigenen Budgets verdonnert worden, gemäß dem Prinzip des „internen Markts“ konkurrierten die Schreibtische nun auch noch miteinander um Gutpunkte im Wettbewerb um Belohnung für Effizienz.
Das verursachte nicht nur unglaubliche Bürokratie, sondern vergiftete natürlich auch das Klima der Zusammenarbeit innerhalb des Hauses. Ich muss jedenfalls immer an diese Episode denken, wenn ich dieser Tage der BBC dabei zusehe, wie sie sich mit großem Appetit selbst zerfleischt.

public domain
Es stimmt schon, die Mutter aller Öffentlich-Rechtlichen, die übrigens heuer Neunzig wird, genießt mit ihrem werbungsfreien Programm (die Werbung, die vom Ausland aus auf den Websites und Satellitenkanälen der BBC erscheint, ist für das britische Publikum übrigens nicht sichtbar) immer noch einen Nimbus der Unbestechlichkeit.
Die Härte, mit der die BBC seit Ausbruch ihrer jüngsten Krise nun schon seit Wochen in Nachrichtensendung um Nachrichtensendung ihre eigenen Versäumnisse kritisiert und dabei letztlich ihren eigenen Generaldirektor George Entwistle zu Fall gebracht hat, wäre nicht nur bei der Privatkonkurrenz, sondern auch bei jeder anderen mir bekannten öffentlich-rechtlichen Anstalt gänzlich unvorstellbar.
Falls diese Begebenheiten in Österreich nicht so präsent in den News gewesen sein sollte, versuche ich, so kurz wie möglich zusammenzufassen:
Nach dem Auffliegen des Jimmy Savile-Skandals vor einem Monat samt dem Subskandal eines letztes Jahr unter eigenartigen Umständen nicht gesendeten Beitrags in der BBC-Nachrichtensendung Newsnight über dessen pädophile Verbrechen hatte sich die BBC geradezu in einen Rausch der öffentlichen – zum Großteil sehr berechtigten – Selbstkritik gesteigert.

pub
Eines der Opfer dieser Nabelschau war Newsnight-Chefredakteur Peter Rippon, der 2011 die Enthüllungen über Savile zurückgehalten und diese Entscheidung später mit von seinen eigenen KollegInnen widerlegten Falschaussagen begründet hatte.
Nach Rippons Suspendierung fabrizierte eine kopflose Newsnight-Redaktion, die keine Enthüllungen mehr versäumen wollte, eine halbfertige Geschichte über einen Pädophilenring im nördlichen Wales der 1980er. Dabei wurde ein zwar ungenannt gebliebener, aufgrund der im Beitrag vorkommenden Details aber leicht identifizierbarer konservativer Ex-Politiker impliziert. Innerhalb kürzester Zeit wimmelte es im Internet nur so von Namen angeblich ebenfalls verwickelter Tories.
Tage nach der Sendung des Berichts bekam der von Newsnight dafür interviewte, als Jugendlicher missbrauchte Augenzeuge schließlich ein Bild jenes gewissen Politikers zu Augen (ich sehe keinen Grund, hier seinen Namen zu nennen, auch wenn er zur Selbstverteidigung an die Öffentlichkeit ging) und schlug sofort Alarm: Der von aller Öffentlichkeit verdächtigte Mann hatte mit seinem Peiniger nichts zu tun.

public domain
Wie sich herausstellte, hatte Newsnight die auf Hörensagen beruhende Identifikation des vermeintlichen Täters nie hinterfragt.
Dieses journalistische Desaster reichte nicht nur dazu, aus dem Skandal um verdeckten Missbrauch an Kindern einen Skandal der Hexenjagd gegen vermeintliche Pädophile zu machen.
Es führte auch zu einem Interview mit dem Generaldirektor der BBC in einer Nachrichtensendung des BBC-eigenen Senders Radio 4, in dem jener sich als bemerkenswert uninformiert entblößte.
Und zwar nicht nur über die redaktionellen Hintergründe, sondern auch über die Berichterstattung anderer Medien über die Methoden der BBC (der Guardian hatte den betroffenen Politiker zwei Tage zuvor als unschuldig geoutet).

public domain
Entwistle hatte offenbar nicht einmal den eigenen Pressespiegel gelesen, und das war vor so einem heiklen Interview ziemlich unentschuldbar.
Als Editor-in-Chief bekannte er sich zu seiner Verantwortung für alle von der BBC gesendeten Inhalte und trat von seinem Posten nach bloß 54 Tagen im Amt zurück. So weit, so unvermeidlich.
Und dann sitz ich am Sonntagabend im Auto und höre im Radio die BBC-Nachrichten, die – wie so oft in der letzten Woche – mit einer Meldung über die BBC selbst beginnen. Und als Headline-News läuft glatt die Aufdecker-Story, dass der die Organisation verlassende Director General George Entwistle eine Abfertigung von 450 000 Pfund erhalten werde (doppelt so viel, wie ihm vertraglich zusteht).
Diese Ausgabe der BBC-Radionachrichten, eingeleitet vom melancholischen Stundenpiepsen, in meinem Fall optisch begleitet von der Aussicht auf eine regennasse herbstliche Landstraße im charakteristisch trüben, orange-farbenen Natriumdampf-Straßenlicht einer britischen Nacht, wird mir für immer in Erinnerung bleiben als jener Moment, da die Mutter aller öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten so tief in ihrem eigenen Rektum verschwand, dass ihr von den Säften ihres Innersten matt glänzender Schopf in ihrem eigenen Rachen zum Vorschein kam.
Ja, es klingt unmöglich, aber so war es.
Und dieses Schauspiel führt zu der simplen Frage, bei allem Respekt für das unabhängige Selbstverständnis der News-Redaktion:
Wenn eine Nachrichtenorganisation einen derartigen Selbstfaller begeht, dann sollte es doch intern Leute geben, die den Verantwortlichen (in diesem Fall dem Chef des BBC Trust Chris Patten) vorher einmal diskret auf die Schulter klopfen.
Dass das scheinbar nicht passiert ist, zeigt, wie unendlich weit das Management der BBC sich von jenen entfernt hat, die die Inhalte produzieren.
Dass ausgerechnet George Entwistle, im Gegensatz zu seinen mindestens genauso abgehobenen Vorgängern, selbst einmal Chefredakteur von Newsnight war, aber mit seinem Aufstieg in die Administration offenbar jede Verbindung zur journalistischen Basis verloren hat, bestätigt diesen Eindruck bloß.
Jeremy Paxman, der prominenteste aller Newsnight-Moderatoren, unerschrockene Symbolfigur des gesunden Skeptizismus gegenüber politischer Manipulation, aber leider auch akut europhober, latent sexistischer Chauvinist, hat es in seinem furchtlosen Statement folgendermaßen zusammengefasst:
"George Entwistle’s Abgang ist eine große Schande. Er wurde von Feiglingen und Inkompetenten niedergemacht. Das wahre Problem ist die Entscheidung der BBC, in Folge des Hutton Inquiry (siehe diese beiden sehr alten Stories hier und hier) auf Nummer sicher zu gehen, indem man hörige Leute einsetzt. Dieses Problem wurde noch dadurch verschlimmert, dass man Sendungsbudgets eine Reihe von Kürzungen auferlegte, während das Management aufgebläht wurde. Und das führt uns zum derzeitigen Durcheinander bei Newsnight. Ich bezweifle stark, dass sich das Problem einzig auf diese Sendung beschränkt. Ich hatte gehofft, dass George am Ruder bleiben würde, um das in Ordnung zu bringen. Es ist sehr bedauernswert, dass ein guter Mann geopfert wurde, während Opportunisten gedeihen.“
Härter hätte sich das kaum sagen lassen.
Wie sehr Paxman im Kern Recht hat, weiß ich aus eigener Erfahrung (mein Gastauftritt bei BBC News 24 als vermeintlicher Experte im Fall Kampusch).
Aber während nun die britische Presse – nicht nur das Haus Murdoch freut sich über diese Gelegenheit zur Rache für das Phone Hacking Enquiry – schadenfroh über die heruntergekommene journalistische Praxis einer BBC johlt, die immer weniger Ressourcen auf immer mehr mediale Kanäle verteilt, betrifft die Gefahr der Aushöhlung des Journalismus im Namen der Kosteneffizienz doch grundsätzlich alle traditionellen Medien (ohne Aussicht auf Ersatz durch die neuen).
Die historisch bedingte Hybris der BBC in ihrem Selbstverständnis als „größte Rundfunkinstitution der Welt“ macht sie oft blind gegenüber den eigenen Unzulänglichkeiten. Vielleicht ist es insofern gar keine so schlechte Sache, dass diese existenzbedrohende Krise ausgerechnet mit den Feierlichkeiten zu ihrem Neunziger zusammenfällt.
Die Erinnerung an ihre Geschichte sollte dabei helfen, die Wichtigkeit ihres kommerziell und politisch unabhängigen Bestehens gegenüber den vielen Feinden einer durch Lizenzgebühren finanzierten BBC (nicht zuletzt in der konservativen Regierungsfraktion) zu argumentieren. Und den Weg zurück zu finden zu journalistischen Standards, die sich – so wie die wirtschaftliche Lage der Medienwelt heutzutage aussieht – künftig womöglich überhaupt nur noch in einer öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt aufrecht erhalten lassen werden.
Auf dass es noch lange weiter stündlich piepsen mag.