Erstellt am: 13. 11. 2012 - 18:36 Uhr
The government is corrupt...
Ich liebe es sehr, wenn irgendwo kleine oder auch größere Weisheiten auftauchen, die ich in meinem Leben kontextualisieren kann. Die neue LP von Godspeed You! Black Emperor-Platte heißt "Allelujah! Don't Bend! Ascend!" - ich glaube, das lasse ich mir an die Stelle tätowieren, wo bei vielen Damen, die in den 90er Jahren Raves besucht haben, ein Arschgeweih prangt, für den Fall dass ich doch noch einmal ins Gefängnis kommen sollte.
Diese recht weltlich-pragmatischen Überlegungen könnten aber nicht weiter entfernt sein von der transzendenten Schönheit des Zerfalls, in die uns Godspeed You! Black Emperor zieht, eine Instrumental Band, für die eigentlich das Wort Postrock erfunden wurde und die sich aber natürlich von dem Genre soweit wie möglich distanzieren möchte: Es gibt Elemente von Rock, klassischer Musik, Metal, Punk und dem Dröhnen, das man bei einer Wurzelbehandlung hört.
Die Zusammensetzung der Band hat sich seit der Gründung 1994 öfters geändert, zwischen sieben und 15 MusikerInnen bilden den "Godspeed You! Black Emperor"-Kosmos. Anfang des Milleniums, zur großen Zeit von Godspeed You! Black Emperor war ich aber in ganz anderen musikalischen Sphären unterwegs, deshalb erlaube ich mir kurz zu copy pasten, was für amerikanische Musikjournalisten Godspeed You! Black Emperor ausgemacht hat:
When we last heard from them on record, it was a year after 9/11, the invasion of Afghanistan was well underway, and the war in Iraq was just around the corner. We were settling into a decade that was, from an American perspective, defined by two wars started by an increasingly unpopular president and an inflating economic bubble that would pop just as he was leaving office. Their music and presentation drew some of its energy from this anxiety.
2012 kommt nun, nach 10 Jahren, ihr viertes Studioalbum.
gsybe
Like a daydream or a fever
Man könnte jetzt lange darüber streiten, ob es ein sakrales Moment bei GY!BE gibt. Ich, die ich "sakral" als Kategorie in meinem Leben ablehne, würde sagen, es gibt etwas "Erhabenes". Man könnte aber auch darüber streiten, ob GY!BE eine politische Band ist. Wenn Politik das Feld der inneren emotionalen Reaktionen auf globale, von Menschen gemachte Katastrophen mit einschließt, dann ja. Bei GY!BE ist Zerfall eine innerne Reaktion auf externe Grausamkeit. So heißt ein Track "Mladic", benannt nach dem bosnisch-serbischen General Ratko Mladić, der als Kriegsverbrecher vor dem UN Tribunal in Den Haag steht. Es ist eine knapp 20-minütige Komposition, die GY!BE seit 2003 live spielen.
Tanya Traboulsi
More of us then them
Die Fotos sind von Tanya Traboulsi, sie ist Fotografin und lebt in Beirut. Sie hat unter anderem das Buch "Untitled Tracks On Alternative Music in Beirut" veröffentlicht.
Das Konzert soll um 21 Uhr beginnen, ich wäre sehr viel zu spät gekommen, hätten meine Lieben mich nicht gezwungen, früher in die Wiener Arena zu gehen.Wir kommen um zwanzig nach neun und sind zu spät. Ich hätte das Konzert gerne als symphonisches Ganzes gesehen.
Die erste Nummer dauert an die zwanzig Minuten und es ist das erste Konzert, das ich besuche, bei dem - bis auf den Klang von der Bühne, der sehr definiert im Raum hängt - absolute Stille herrscht. Niemand spricht, Worte werden für 120 Minuten verbannt, damit wir uns auf andere Kanäle der Kommunikation einlassen. Es ist ein eigener Moment, weil Stille und Musik scheinbar gleichzeitig existieren.
Tanya Traboulsi
Es gibt wenig Bühnenlicht, hinter der Band leuchten die Visuals. GY!BE arbeiten mit Schleifen und Loops, akustisch und visuell. Der Bühnenboden quillt über mit Pedals und Effektgeräten, die Leinwand hinter der Bühne ist zweigeteilt wie ein aufgeschlagenes Buch. Die Visuals sind Teils handgeschrieben, teilweise sind es abgefilmte Buchseiten und jedes einzelne Wort ist für sich ausgestrichen.
Tanya Traboulsi
Schwirren, Streicher, Morricone, Wüste, Helicopter - es geht einiges in meinem Kopf ab, wenn ich die Augen schließe. Es wird psychedelisch, meine Lieben, und ich bin nüchtern, bis auf Hustensaft. Schwöre! Die Visuals erinnern teilweise ein bisschen an das, was jede und jeder zur Hochblüte des Weltenzweifels schon mal gefilmt hat: Eisenbahngleise, Wolken am Himmel, verlassene Behausungen im Wald, alles grau und verschwommen. Deshalb schließe ich wieder meine Augen und Konzentriere mich auf die feinen Substanzen, die mein Hirn zu den Klängen ausschüttet.
Meine kleine empirische Umfrage nach diesem Stück ergibt, dass meine Freundinnen von der Nummer genau so high wurden wie ich.
Tanya Traboulsi
The sewers are all muddied with a thousand lonely suicides
Meine Liebe wünscht sich "Dead Flag Blues" bevor wir wieder gehen müssen. Das, was wir bekommen, hat die entgegengesetzte Wirkung von den Nummern, die wir zuvor hörten, wie Behemoth. Nummern, bei denen du die Ungeheuer in dir drinnen triffst, die auch manchmal ganz gute Gesellschaft leisten. Das, was wir zum Abschied hören, öffnet. Das, was du siehst und hörst ,geht sehr tief, das Rote Licht des Emergency Rooms, Stadt, Kälte, Asphalt, leere Heilsversprechungen. Du läufst in der Nacht herum und weißt, es gibt keinen Ort, an dem du Ruhe finden kannst. Dann Füße, Menschen, die gehen eine Anti Kriegsdemo in New York. Du siehst es wie in einem anderen Element, entrückt aus einer anderen Perspektive die dir Größe und Schwere bewusst macht ohne dich in hysterische Panik zu stürzen. Präzise 120 Minuten dauert das Konzert in der ausverkauften Wiener Arena. Es war ein triumphales preaching to the converted.