Erstellt am: 10. 11. 2012 - 15:24 Uhr
John Fahey liegt nackt auf dem Sofa
- Mehr Buchempfehlungen auf FM4
Es ist schon ein bisschen schwer, sich vorzustellen, dass es einmal so etwas - vor allem auf dem Magazinsektor - wie US-amerikanischen "Old Journalism" gegeben haben könnte, also etwas, das vor "New Journalism" dagewesen ist. Allzu sehr hat man sich schon an die investigativ-literarischen Vorgaben von Gay Talese, Hunter S.Thompson und Tom Wolfe und ihr ewiges Weiterwirken in fast schon alles, was "Reportage" heißen mag, gewöhnt: an die Hineinverstrickung des Autors hinein ins Geschehen, an die Verbrüderung mit dem beobachteten Gegenstand, an die ständige - völlig wertungsfrei - Ich-Sagerei.
Derselben Schule entspringt der 1974 in Louisville, Kentucky geborene Autor und Journalist John Jeremiah Sullivan. Sullivan schreibt unter anderem für GQ, Harper's Magazine und das New York Times Magazine und hat für seine Nachbohrungen im US-amerikanischen Unterholz zwischen Popkultur, Politik und Sittengemälde neben einigen anderen Auszeichnungen schon zweimal den National Magazine Award erhalten. In "Geister des Blues", einer der besonders schönen, ja, Geschichten, die der vor kurzem auf Deutsch erschienene Band "Pulphead" versammelt, hat John Jeremiah Sullivan den niemals zu unterschätzenden Gitarren-Weiterdenker - gleichermaßen Blues-Lexikon - John Fahey am Telefon:

John Jeremiah Sullivan
"Fast alle maßgeblichen Blues-Kenner haben diese Tendenz an den Tag gelegt: Solange die Musik so gut wie unbekannt war, pries man sie als große, unverwüstliche amerikanische Kunst; als jedoch die Leute (wie die Rolling Stones zum Beispiel) Feuer fingen und darüber zu plappern begannen, konnte man sie nicht schnell genug daran erinnern, dass es sich eigentlich nur um Tanzmusik für betrunkene Erntehelfer handelte. Fahey hatte einen Punkt erreicht, an dem er in ein- und demselben Satz beide Extreme unterbringen konnte. "
Sullivan imaginert sich dazu John Fahey, körperlich am Ende, wie er mit üppigem Bart nackt auf seiner Couch liegt. Sullivan hat Fahey aus Recherchezwecken konsultiert, er soll die Lyrics für einen uralten, so gut wie unbekannten Blues-Song ausforschen - für einen Artikel, den ein anderer schreibt. John Fahey weiß solche Dinge angeblich. Aus dieser kurzen Anekdote entwickelt nun Sullivan eine tiefschürfende Analyse der Blues-Rezeption der jüngeren US-Geschichte.
So laufen die Texte in "Pulphead" ab: Im Zentrum steht zunächst der Autor Sullivan selbst, er ist handelnde Figur oder - immer ein beliebter Kniff - er erinnert sich an seine Jugend. So kann er eventuell falsche Philosophien, denen er als jüngerer Mensch vielleicht irrtümlich gefolgt ist, als legere Demonstration der eigenen Fehlbarkeit präsentieren. Hier liegt die große Stärke von Sullivan: Wie scharf die Analyse auch angelegt wird, egal, ob es nun um Michael Jackson, die Tea-Party oder Sturm Katrina geht, dem verhandelten Thema wird stets mit Würde - und nicht aus doofer zynischer Distanz - begegnet. Auch die reichlich unglamouröse Wiederkehr von Axl Rose und seiner gänzlich umgestalteten Band Guns N' Roses begleitet Sullivan mit angemessener Expertise. Und auch Fanboytum.

Pulphead
"Sie waren die letzte große Rockband, die es nicht irgendwie auch ein bisschen peinlich fand, eine Rockband zu sein. Es gibt immer und überall Tausende von Bands, für die Rock nicht im Ansatz lustig ist, aber selten mal ist eine von ihnen gut. Um G N'R kam man - egal für wie geschmacksgebildet man sich in Sachen Popmusik hielt (lassen wir an dieser Stelle die paradoxe Natur der durch und durch sozialen Kategorie 'Geschmack' beiseite) - nie ganz herum."
"Pulphead" eilt schon so einiges an Hype und Hymne voraus, Preise und Kritikerlob regnet es allerorts. Zurecht: Die Verschneidung von Literatur, die singt und tänzelt, und erhellender, kritischer Auseinandersetzung flutscht hier nur allzu gut. Vielleicht zu gut. Neben der Tatsache, dass Sullivan da und dort einen etwas zu ranschmeißerischen, das Schreiben selbst kommentierenden Ton ("Was soll ich Ihnen erzählen... ?") anschlägt, mag an diesem Band einzig das Gefühl leicht unwohl aufstoßen, mitunter die Mechanik der Texte zu schnell begriffen zu haben. Sie "funktionieren" ohne Probleme. Tatsächlich aber wird man im Moment kaum ein Buch finden, das Unterhaltung und Erkenntnisgewinn so gut koppelt wie "Pulphead". Ein Höhepunkt ist schon die erste Geschichte (auch die sicherlich - Popkultur! - nicht ganz einfache Übertragung ins Deutsche ist fast durchgehend gut geglückt): "Auf diesen Rock will ich meine Kirche bauen." John Jeremiah Sullivan besucht da ein riesiges Christian Rock Festival. Anstelle der erwartbaren Kopfschüttelei und Verulkung gibt es Erklärung - vielleicht gar Erleuchtung:
"Jede erfolgreiche säkulare Schrottband hat ihren christlichen Ableger, was nur folgerichtig ist, denn kulturkritisch gesprochen fungiert eine Christenrockband nicht als Alternative zur säkularen Band oder als eine Verbesserung derselben, sondern als christliches Double. [...] Möglicherweise wollen Sie etwas cooles Neues hören. Diese Musik aber braucht etwas, von dem bereits erwiesen ist, dass es gut ankommt, und dann wird es in den Dienst der Lobpreisung des Herrn Jesus Christus gestellt."