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Andreas Gstettner-Brugger

Vertieft sich gern in elektronische Popmusik, Indiegeschrammel, gute Bücher und österreichische Musik.

11. 11. 2012 - 14:22

Kein Zuckerschlecken

"Der Trafikant" ist ein intensives, berührendes und aufwühlendes Werk zwischen Entwicklungsroman, Liebesgeschichte und geschichtlichem Zeitdokument.

Franz hält sich an einer Straßenlaterne fest. Die Übelkeit und sein Kreislauf setzten ihm derartig zu, dass er beinahe ohnmächtig zusammenbricht. Um ihn herum wütet das Wien von 1937. Der Lärm knatternder Autos vermischt sich mit dem Bimmeln von Straßenbahnen, dem Klappern von Pferdehufen am Kopfsteinplaster und dem Geruch von Fäkalien. Pferdedunst, Abwasserkanalfäulnis und Menschenschweiß steigt ihm in die Nase. Der siebzehnjärige Junge aus dem Salzkammergut kommt gerade vom Westbahnhof und ist überfordert.

Buchcover Robert Seethaler "Der Trafikant"

Kein & Aber

Robert Seethalers Roman "Der Trafikant" ist im Kein & Aber Verlag erschienen.

Hier also soll er sein Glück als Trafikantenlehrling finden. Im Gegensatz zur heimatlichen Landidylle scheint diese Stadt mit all ihrem Beton und Stein nervös zu pulsieren. Doch in den nächsten Monaten wird dem siebzehnjährigen Franz eine kleine Trafik in der Währingerstraße zur neuen Heimat. Das Geschäft führt der kriegsversehrte Otto Trsnjek, ein Mann mit harter Schale und weichem Herz.

Neben seiner ersten große Liebe, die Franz im Wiener Prater kennenlernt, trifft er auch auf Professor Sigmund Freud - der ist Stammgast in der Trafik. Während sich zwischen dem alten Psychoanalytiker und dem jungen Landbuben eine fragile Freundschaft entwickelt, zerbricht nicht nur Franz' Liebesleben. Die Vorbereitung zu Hitlers Machtergreifung manifestieren sich in Demütigungen und nächtlichen Übergriffen, bis der Anschluss Österreichs am 12. März 1938 das Leben aller Protagonisten in den Abgrund stürzt.

Schreiben ist kein Zuckerschlecken

Auf nur einer Seite schafft es der österreichische Schriftsteller Robert Seethaler, den Leser ins Wien von 1937 zu versetzen. Nicht nur vor dem geistigen Auge entsteht das Bild der Stadt, man hört und riecht sie förmlich. Das liegt vor allem an der klaren und knappen Sprache, mit der Robert Seethaler geschickt hantiert.Diese Schreibweise bedeutet für den gebürtigen Wiener allerdings harte Arbeit.

Robert Seethaler: "Die meisten Autoren streichen und kürzen während des Schreibprozesses. Ich mache das gar nicht. Bei mir muss das so sitzen, wie es im Endeffekt auch ins Buch kommt. Das heißt, ich renne den ganzen Tage herum, denke und leide und abends schreibe ich dann drei Sätze hin, aber die müssen dann stimmen. Man presst die Geschichte sozusagen Wort für Wort oder Tropfen für Tropfen aus seinem Herz heraus, und das ist schon ein Leidensprozess. Aber jeder Autor wird dir bestätigen, dass Schreiben kein Zuckerschlecken ist."

Portrait des österreichsichen Autors Robert Seethaler

©sinissey

Robert Seethaler ist im 10. Wiener Gemeindebezirk als Kind einer Arbeiterfamilie aufgewachsen und hat eine Hassliebe zu seiner Heimatstadt entwickelt. Auch deshalb stellt er Wien in den Mittelpunkt von "Der Trafikant". Mittlerweile lebt und arbeitet er als Schauspieler und Autor in Berlin.

Dieser Leidensprozess hat sich auf alle Fälle ausgezahlt. "Der Trafikant" ist ein berührendes, bewegendes und extrem vielschichtiges Buch geworden. Es ist Entwicklungsroman, Liebesgeschichte, Gesellschaftsportrait und mutet trotz der Fiktionalität wie ein wichtiges Zeitdokument der dunkelsten Geschichte Österreichs an. Das alles transportiert Robert Seethaler mit einer literarischen Leichtigkeit, Präzision und Bildhaftigkeit, sodass man - wie die Protagonisten selbst - vom Strudel der Ereignisse unweigerlich mitgerissen wird.

Die Charakterisierung von Sigmund Freud und die vorsichtige Beziehung zwischen dem alten Professor und dem unbedarften Landbuben könnte sich bei aller schriftstellerischen Freiheit tatsächlich so abgespielt haben. Dabei war es für den Autor nicht wichtig, alle historischen Fakten detailliert und penibel einzuflechten - eher legte Seethaler besonderes Augenmerk darauf, die Emotionen der Figuren mit Ort und Zeit in Einklang zu bringen. Über diese Ebene der Authentizität schafft es Robert Seethaler, den Leser auf eine emotionale Zeitreise zu schicken, ohne dass dieser sich permanent die Frage nach der Plausibilität der präsentierten Figuren und deren Geschichte stellen muss.

Dass in "Der Trafikant" weit mehr steckt, als ein zeitgeschichtlich interessanter coming-of-age-Roman, zeigt sich in vielen kleinen Details, die in die Erzählung einfließen, ohne explizit erwähnt zu werden. Zum Beispiel lässt Robert Seethaler den jungen Trafikanten seine Träume auf einen kleinen Zettel schreiben, der jeden Tag an die Tür der Trafik geklebt wird. Das geschieht nicht etwa, nur weil der eigentliche Besitzer Otto Trsnjek von den Nazis ermordet wird und der Betrieb des Geschäfts wieder angekurbelt werden muss. Dieses Ritual, das auch eine Anspielung an Freuds Psychoanalyse ist, steht für etwas viel profunderes.

Robert Seethaler: "Ich weiß nicht, ob überhaupt ein bestimmtes Dinge für etwas anderes stehen kann oder soll. Aber wenn man das so sehen will, dann steht dieses Ritual dafür, dass es oft sehr wichtig ist, Dinge auszusprechen. Und sein Innerstes wie auch sein Äußerstes mit anderen Menschen zu teilen. Ich glaube, dass das ganz wichtig ist und jedem auf seinem Lebensweg immer wieder verloren geht."