Erstellt am: 11. 11. 2012 - 13:59 Uhr
Der Maskenmörder von Miami
Der erste Mafioso sieht mich nicht einmal kommen. Ich ramme ihm die Tür ins Gesicht, schnappe mir das Messer, das er fallengelassen hat und werfe es seinem Kollegen in den Rücken. Einen Dritten, der gerade den Raum betritt, schlage ich zu Boden, kralle mir seine Schrotflinte und pulverisiere damit seinen Kollegen, der sich gerade wieder aufrappelt. Dann setze ich mich auf den Brustkorb des benommen am Boden Liegenden und schlage seinen Kopf so lange auf den Boden, bis er sich nicht mehr bewegt. Der Raum, vor vier Sekunden noch ein ganz normales Wohnzimmer, sieht aus wie ein Schlachthaus.
Dennaton
"Hotline Miami" ist das Spiel, vor dem besorgte Müttervereine und Games-ferne Pädagogen uns immer gewarnt haben. Es ist ein Mordsimulator, in dem wir als namenloser Auftragskiller mit Tiermaske und Dutzenden Waffen Leben um Leben auslöschen und Leichenberge wie Blutgemälde hinterlassen. "Hotline Miami" ist zugleich aber ein Meisterwerk des Mediums Games, in dem auf beeindruckende Weise spielerische, erzählerische und medienkritische Elemente in einer Perfektion ineinanderfließen, die selten und bemerkenswert ist.
Minimalistischer Mordsimulator
Doch der Reihe nach: In charakteristischer Retro-Ästhetik führt uns "Hotline Miami" in ein Achtzigerjahre-Miami, in dem wir aus der noch vom Original-"GTA" bekannten Vogelperspektive einen namenlosen Auftragsmörder spielen. Die Nachrichten auf unserem Anrufbeantworter führen uns zu einzelnen Häusern, die wir von Dutzenden schwerbewaffneten Mafiosi säubern sollen, doch dafür sind starke Nerven, Planung und gute Reflexe gefragt, denn der Tod lauert an jeder Ecke: Wir sind ebenso fragil wie unsere Opfer, und der kleinste Fehler rächt sich sofort und wirft uns zurück an den Anfang des Levels - nur durch Übung und Trial and Error können wir unseren gewalttätigen Kreuzzug erfolgreich zu Ende führen.
Dennaton
Das Gameplay selbst, mit seiner Abwechslung aus strategischem Lauern und Arcade-hafter Action, ist schnörkellos, konsequent, adrenalintreibend und spannend. Man verliert sich in seinem Flow aus Bewegung, Taktik und Reflexen. "Hotline Miami" ist simpel - es gibt wenige Elemente -, aber komplex - es gibt viele Variationsmöglichkeiten. Mit zunehmender Meisterschaft steigt auch der Anreiz, kühner zu spielen, effizienter und tödlicher zu werden. In seinen perfekten Momenten - wenn in zwanzig atemberaubenden Sekunden nach unzähligen Fehlversuchen jede Bewegung sitzt, jede Aktion aufgeht - zaubern wir ein Action- und Mordballett, das selbst John Woo, Takashi Miike und Quentin Tarantino nicht heftiger, unmittelbarer oder atemberaubender inszenieren könnten. Allein deswegen ist "Hotline Miami" bemerkenswert.
"Do you like hurting other people?"
Aber muss das alles so brutal sein? Die Antwort wird alle überraschen, die auf den ersten Blick nur eine games-typische Zuspitzung des Splatterns um des Splatterns willen erwartet haben. "Hotline Miami" macht die Frage nach dem Sinn all dieser spielerischen Gewaltorgien zum Dreh- und Angelpunkt seiner im Grotesken, Albtraumhaften wurzelnden Story und verpasst seinen Spielern im Verlauf der an David Lynch erinnernden tour de force in die Abgründe menschlicher Gewalttätigkeit so manche schmerzende Ohrfeige. Eine Verherrlichung der lakonisch präsentierten und zugleich schockierenden Gewalt kann "Hotline Miami" auf den zweiten Blick nicht vorgeworfen werden; wie in Winding Refns Neo-Noir-Kultfilm "Drive", den die Spielmacher als dezidierte Inspiration nennen, ist sie ein essenzielles, disruptiv hervorbrechendes Grundelement, das sich hinter einer nur scheinbaren Normalität zusammenbraut und sich in trancehaften, verstörenden Momenten entlädt.
Dennaton
Diese subversive Strategie zeigt sich etwa auch in folgendem Detail: der Spieler muss, nachdem er erst in einen Rausch aus Mord und Zerstörung versetzt worden war, nachdem der letzte Gegner des Levels erledigt ist, in abrupter Stille, ganz ohne den übrigens wirklich exzeptionell fantastischen, pulsierenden Soundtrack, durch all diese Leichenberge zurück zu seinem Wagen laufen. Hier wird Gewalt nicht verherrlicht, sondern gezeigt; und die Handlung (Vorsicht: Minimal-Spoilerwarnung) schafft das Kunststück, über oberflächliche Verstörungsmomente hinaus schließlich mehrere Haken zu schlagen und sich im Endeffekt in einer wunderbaren Metaebenen-Pointe gegen den Spieler selbst zu wenden.
Kunst und Kommerz
Jonathan Söderströms erstes kommerzielles Spiel ist ein kompromissloses, lautes "Fuck you" an alle, die vom Punk-Wunderkind der Indieszene Mäßigung erwartet hätten. Als Cactus hat der junge Schwede jahrelang in erstaunlichem Tempo Freewarespiele erschaffen, die roh und brillant waren: Mit "Psychosomnium" oder "Norrland" hat Söderström dem harmlosen Games-Mainstream wiederholt auf stilistisch einzigartige Weise den Mittelfinger gezeigt. Dass damit nur ein prekär mittelloses Auskommen zu finden ist, zeigte sich in Söderströms privater Situation: Nach dem Wegfallen eines kanadischen Mäzens ist das gemeinsam mit Dennis Wedin verwirklichte "Hotline Miami" nun auch ein Versuch, seine Arbeit kommerziell zu verwerten.
"Hotline Miami" ist für Windows erschienen.
Dieser Versuch ist aufs Überzeugendste geglückt. Dass dieses Spiel nach völlig gerechtfertigten hymnischen Besprechungen und diversen Auszeichnungen seinen Machern genug Kapital fürs Weitermachen verschafft, ist umso erfreulicher, als "Hotline Miami" kein kommerzielles Spiel geworden ist, sondern ein bewusst provokantes Statement, das bei aller plakativen Gewalt auch klug und fesselnd ist, das sowohl spielerisch wie narrativ herausfordert, provokante Thesen über sein Medium und sein Publikum aufstellt, als auch visuell und akustisch (nochmals: fantastischer Soundtrack, hier zum Reinhören) überzeugt.
Dass uns dieser bitterböse und doppelbödige Mordsimulator zudem verstörende Fragen über unsere eigene Gewaltfixierung stellt, kann in Zeiten des Headshot-Porn gar nicht genug gewürdigt werden. "Hotline Miami" ist eines der wichtigsten Spiele des Jahres; ein zukünftiger Klassiker.