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Günter Hack

Internet-Faktotum

31. 10. 2012 - 13:15

Das Internet als Mediensystem des Todes

Auf Serverfarmen wird zwar viel gespeichert, aber das Netz gibt sich gerne geschichtslos. Ein gefährlicher Fehler.

In den beiden Bänden der gesammelten Werke des französischen Anthropologen Jean-Pierre Vernant sind auffallend viele Seiten dem Totenkult im antiken Griechenland gewidmet. Eine zentrale Stelle gehört darin der Idee des "schönen Todes": Der Held in der Blüte seiner Jugend gibt sein Leben im Kampf für die Gemeinschaft. Seine Freunde unternehmen alles, um seinen Körper zu bergen und so sorgfältig wie möglich wieder herzustellen, bevor er rituell dem Feuer übergeben wird. Über dem Grab des Gefallenen errichten seine Leute einen Kouros, die Statue eines makellosen jungen Mannes. Interessanter als diese ist jedoch die immaterielle Praxis des Erinnerns, wie Vernant notiert. Die Heldentaten des Toten gehen nämlich in die mündliche Überlieferung seiner Gemeinschaft ein.

Griechischer Kouros

Günter Hack

Das Ziel des idealisierten griechischen Helden ist demnach die Unsterblichkeit in der Wiederholung des gesprochenen Worts, die ewige Wiederkunft in der rituellen Erzählung. Wie Vernant beschreibt, investierten die Griechen viel Energie und Intelligenz in Aktivitäten, die den Tod in seinen zahlreichen mythologischen Gestalten bannen sollten. Das Erinnern in der Erzählung ist eine Strategie gegen den Tod, meint Vernant. Jedes Medium ist nur so gut, wie es der Erinnerung dient. Das gilt auch für das Internet.

Eine absurder Gedanke in der Ära der Echtzeitkommunikation, des totalen Jetzt, aber nur im ersten Moment. Schließlich tragen schon die frühen Leiterzählungen der Netzkultur Züge der archaischen Schattenwelt. Von Stanislaw Lems Phantomatik über Visualisierungen in Fassbinders "Welt am Draht" oder "Tron" bis hin zur Hochklassik des Cyberpunk in William Gibsons Sprawl-Trilogie, wo das abgespeicherte Persönlichkeitskonstrukt des toten Hackers Dixie Flatline durch die Netze geistert und diverse Voodoo-Götter fröhliche Urständ feiern. Diese grundverschiedenen Erzählungen weisen eine böse kleine Konstante auf: Der Raum im Rechner, das ist das Drüben, das Reich der Toten.

Statue mit Pfeil in der Brust

Günter Hack

Im digitalen Jenseits

Vernant zitiert die Klassiker: Odysseus opfert am Rande der Welt den Toten zwei Schafe und stabilisiert mit deren Blut für einen kurzen Augenblick nicht nur den Seher Tereisias, der ihm den Weg in die Heimat weisen soll, sondern auch den vor Troja umgekommenen Achill – den klassischen Helden per se – an der Oberfläche des Schattenreichs. Achill nutzt die Energiezufuhr von außen dazu, Odysseus mitzuteilen, dass er lieber als Unbekannter am Leben wäre als der größte Held im Jenseits zu sein. Für Vernant illustriert diese Stelle, dass das Konzept des "schönen Todes" auch im antiken Griechenland nicht unumstritten war, nicht einmal in den Heldenerzählungen selbst. Für uns heute ist der Dialog zwischen Odysseus und Achill der Quellcode, aus dem das Programm für Case und Dixie Flatline abgeleitet ist. Odysseus tötet die Opfertiere, er verbindet sich mit dem endlosen Informationsraum des Todes, führt latenten Strukturen Energie zu und aktiviert sie - ein magischer Vorgang des Erinnerns.

Das Internet ist schwächer noch als die Phantome im antiken Jenseits, vom kleinen aber feinen Expertenblog bis hin zum Großprojekt, können viele Arbeitsjahre durch einen einzigen leichtfertig erteilten Befehl für immer gelöscht und vernichtet werden. Diese Schwäche gibt dazu Anlass, die Mediensysteme nach deren energetischer Stabilität einzuteilen, wie es bereits in den informationstheoretischen Ansätzen von Claude Shannon und Norbert Wiener angelegt ist. Einmal mühevoll gemeißelt, stehen ein Kouros oder ein römischer Grabstein lange. Auch gedruckte Medienprodukte brauchen nur bei ihrer Produktion viel Energie und bleiben dann über große Zeiträume hinweg stabil – kontrollierte klimatische Bedingungen vorausgesetzt, wie jeder Archivar weiß. Elektronische Mediensysteme aber bedürfen, um live zu sein, permanenter Energiezufuhr. Für Konzerne wie Google oder Facebook ein gewaltiges Problem, sowohl was die Betriebskosten als auch was das ökologische Image betrifft.

Antiker griechischer Grabstein

Günter Hack

Tote Daten

Um kulturell wirksam werden zu können, muss das Netz dazu in der Lage sein, zumindest seine eigenen Heldengeschichten zuverlässig in die Zukunft transportieren zu können. Einigen Institutionen, wie beispielsweise Brewster Kahles Archive.org oder institutionellen Repositories an Universitäten und Bibliotheken, liegt das sehr am Herzen. Aber diese Archive beteiligen sich nur begrenzt daran, die Geschichte zu aktualisieren, sie lebendig und live zu halten. Abspeichern ist nur die Voraussetzung für das Erinnern. Genauso wie die Selektion dessen, was archiviert werden soll. Facebook etwa, das haben die Recherchen der Initiative Europe-v-Facebook.org gezeigt, speichert beinahe alles ab, ohne aber zu wissen, was es - zunächst - damit anfangen soll.

Die Kräfte, die das Netz daran hindern, seinen legitimen Platz als zentralen Ort gesellschaftlicher Selbstreproduktion einzunehmen, sind aber stark. Bei ihnen handelt es sich, abgesehen vom schwarz dräuenden Ereignishorizont eines zunehmend vermittlungsfeindlichen Urheberrechts, um zwei Bestandteile seiner eigenen mythischen Selbstbeschreibung, was diese umso gefährlicher macht.

Statue eines griechischen Kämpfers mit Schild

Günter Hack

Destruktion bleibt Destruktion

Erstens wäre da die trivialschumpeterianische Ideologie der kreativen Destruktion, vom permanenten Umbruch, vom Zwang zum ewig Neuen. Sie sorgt dafür, dass die Akteure über ihr Handeln erst dann nachdenken, wenn es schon zu spät ist. Sie sagt: Code und schreibe, als gäbe es kein Morgen. Dabei haben die von ihr generierten Hype-Zyklen schon selbst rituellen Charakter. Zweitens wäre da das bereits beschriebene Fantasma der digitalen Transzendenz, der Gedanke der "Virtuellen Realität" als einer säkularisierten Variante des Jenseits.

Das Netz ist aber gerade nicht transzendent, es ist kein Modell für eine bessere Welt, erst recht kein "rechtsfreier Raum". Es besteht vielmehr aus einem Satz sehr diesseitiger Technologien und Regeln, es ist immanent. Was wir als Gesellschaft und Individuen in Sachen Internet tun oder lassen, hat unmittelbar harte Konsequenzen für unser Arbeiten, unsere Lebenswelt, und unser Wohlbefinden. Sich das einzugestehen, wäre der erste Schritt auf dem Weg zu einem Umgang mit dem Netz als einem System, dem wir unsere Erinnerungen sicher anvertrauen können.

Strategien der Erinnerung

Damit das Internet seinen legitimen Platz als führendes Mediensystem einnehmen kann, muss es Strategien der Erinnerung entwickeln, die seiner Funktionsweise entsprechen und besser sind als die der Buchkultur, die ihrerseits gerade dabei ist, den Weg der digitalen Transformation zu gehen. Wer vergisst, sich zu erinnern, wird verschwinden. Das Erinnern wiederum ist kein Problem, das sich technisch lösen ließe, sondern nur durch die Einführung neuer sozialer Praktiken und Institutionen. Gelebt wird dies in der gerne gescholtenen Wikipedia, deren Einstiegsseite ein einziges Angebot zum Lernen und zur Reaktivierung passiven Wissens darstellt.

Solche Praktiken wären dringend nötig. Denn auch die Netzkultur selbst ist schwach. Wer Vint Cerf ist, könnte man noch wissen. Auch WWW-Erfinder Tim Berners-Lee kennt man noch. Aber wer waren nochmal Jon Postel, Dennis Ritchie oder JCR Licklider? Wer weiß, was diese Menschen getan haben und warum, hat den Schlüssel zum Verständnis der Informationsgesellschaft. In seinem Buch "Nerves of Government" (1963) hat der Kybernetiker Karl Deutsch geschrieben, die Menschenwürde äußere sich in der Möglichkeit, frei und ungehindert gemäß der eigenen Vorgaben lernen zu können. Nicht weniger steht heute auf dem Spiel.