Erstellt am: 30. 10. 2012 - 18:30 Uhr
Liebevolles Leichenfleddern
Eingefleischte Horrorfans und Metal-Anhänger haben etwas gemeinsam: Sie sehen sich gerne als wilde Hunde, die durch nichts aus der Fassung zu bringen sind. Weder wüste Splattersauereien noch verzerrteste Gitarren können ihnen etwas anhaben. Allerdings nur scheinbar. Denn hinter der vermeintlichen Koketterie mit dem Andersartigen und Heftigem stecken nicht selten strikt normierte Genrezugänge.
Jörg Buttgereit
Konfrontiert man den stereotypen Metalcore-Jünger mit Noise-Attacken, die sämtliche Song-Schemata und Hörgewohnheiten brechen, wird es schnell anstrengend und qualvoll für ihn. Im Herzen ist nämlich mancher Headbanger der Schlager- und Volksmusik-Gemeinde ganz nahe. Brüche mit all den festgefahrenen Genreregeln und Gesetzen stoßen auf blankes Unverständnis und Ablehnung.
Auch Blut- und Beuschel-Fanboys wetzen schon mal unruhig auf dem Kinosessel oder der eigenen Couch herum, wenn Filme aus gewohnten Slasher-Mustern ausbrechen. Kratzt ein Regisseur an bestimmten Tabus, dreht rabiat Geschlechterrollen um oder sägt am Fundament der konventionellen Moral, ist Schluss mit Lustig.
Jörg Buttgereit
Pionier in Sachen Subversion
Jörg Buttgereit ist so ein Künstler, der in der Blütezeit seines filmischen Schaffens für verstörte Reaktionen in der Fancommunity sorgte. Mit Werken wie "Schramm", "Der Todesking" und den beiden "Nekromantik" Teilen zielte der Berliner zwar nach außen auf die Schlüsselreize des Horrorkinos ab. Unter der Oberfläche der extremen Low-Budget-Produktionen eröffnen sich jedoch klaffende Abgründe weit abseits der üblichen Schock-Klischees. Buttgereits frühe Filme kreisen um den kompromisslosen, irreversiblen Bruch mit dem Interessenverband namens Gesellschaft.
Jörg Buttgereit
Da fühlen sich junge Männer (und in "Nekromantik 2" eine junge Frau) zu Leichen hingezogen, masturbieren einsame Serienkiller in ihren isolierten Wohnungen mit Gummipuppen, werden Suizid und Amoklauf zur tragischen theatralischen Inszenierung. Die legendären und berüchtigten Billigstreifen des Jörg Buttgereit, gedreht mit Laiendarstellern aus der Berliner Szene, symbolisieren in den späten 80er und frühen 90er Jahren ein erschütterndes Todeskino made in Germany. Ernsthaft und trashig zugleich, makaber und manchmal auf rabenschwarze Weise komisch, nicht zuletzt romantisch im Hardcore-Sinn des Wortes, zielen diese Arbeiten auf die Magengrube, das Herz und das Hirn.
Dabei sorgt der Regie-Autodidakt damals nicht nur für Diskussionen unter den Splatterfans, er zieht auch viele von ihnen auf seine Seite, unterwandert das Genre mit einer inhaltlichen Radikalität, die man in der blutigen Dutzendware völlig vergeblich sucht. Buttgereit wird damit in seinem kleinen Bereich zu einem Pionier in Sachen medialer Subversion.
Jörg Buttgereit
Ein Herz für Gummi-Monster
Um das Eingangsbild von der konservativen Hard'n'Heavy-Hörerschaft wieder aufzugreifen: So wie Bands wie Neurosis, Jesu, Melvins oder Sunn O))) durchaus von der Metalkäuferschicht leben, ohne sie direkt zu bedienen, zehrt Jörg Buttgereit von den Horrorkunden, die seine widersprüchlichen Werke konsumieren. Zumindest eine Zeit lang geht diese Gradwanderung gut. Mitte der 90er nagt die Selbstausbeutung, die zum unbezahlten Guerilla-Filmemachen gehört, jedoch anscheinend zu sehr an dem Regisseur. Buttgereit beendet sein Spielfilmschaffen, als umtriebiges Multitalent verschwindet er jedoch alles andere als von der Bildfläche.
Der Tabubrecher und filmische Todeskönig, dass ist ohnehin nur eine Facette von Jörg Buttgereit. Wer den Berliner nicht kennt und angesichts seiner Schlüsselfilme so etwas wie den Prototyp des strengen deutschen Gruftkünstlers erwartet, könnte nicht mehr daneben liegen. Das Lachen, es gehört mindestens so zum Schaffen und zur Persönlichkeit Buttgereits wie die Lust am Schrecken.
Jörg Buttgereit
Humorvoll und mit einer unglaublich sympathischen kindlichen Naivität, die er sich auch als Fortysomething bewahrt hat, verfolgt er seine Obsessionen fern von Leichenschändern und Serienkillern. Als Spezialist für das herrlich infantile japanische Monsterkino gibt Buttgereit ein fantastisches Buch über Godzilla & Co. heraus, tritt schon mal als durchgeknallter Pornoregisseur in Comedys auf oder schreibt als Kritiker für Magazine wie "epd Film", "Tip" und "Deadline" auch über Mainstreamthemen geistreich und witzig. Er dreht legendäre Ausgaben der Arte-Reihe "Durch die Nacht mit..." und widmet sich auch in Fernsehdokus den wunderbaren Japanern in den Monster-Gummianzügen.
Jörg Buttgereit
Bühnenblut und Radio-Vorfreude
Es sind aber Hörspiele und Theateraufführungen, die im Zentrum seiner künstlerischen Arbeit der letzten zehn Jahre stehen. Titel wie "Frankenstein in Hiroshima", "Bruce Lee – der kleine Drache", "Horror Entertainment", "Sexplosion in Shinjuku" oder "Die Bestie von Fukushima" verweisen darauf, dass Jörg Buttgereit auch im Radio seinen Leidenschaften liebevoll treu bleibt. Auf diverse deutsche Bühnen bringt er selbst verfasste Stücke mit nicht weniger malerischen Titeln wie "Captain Berlin vs. Hitler", "Green Frankenstein" und "Sexmonster".
Jörg Buttgereit
Mit seiner neuesten Theaterarbeit, erst vor kurzem in Dortmund uraufgeführt, schließen sich einige leichenfledderische Kreise bei Buttgereit. Die True Crime-Tragödie "Kannibale und Liebe" handelt nämlich vom Grabräuber, Serienkiller und Kannibalen Ed Gein, der auch Horror-Klassiker wie "Psycho" oder "The Texas Chainsaw Massacre" inspirierte. Ein modriger Hauch von Ed Gein zieht sich auch durch Jörg Buttgereits erwähnte Kinofilme und die derzeit laufende, von ihm programmierte Viennale-Leiste "They Wanted To See Something Different".
"House of Pain" Halloween Spezial mit Jörg Buttgereit: Mittwoch 22h
Mit welchen Hintergedanken er diese Filmschau über das Unheimliche kuratierte, die von Monstertrash über Avantgardewerke bis zum Brutalo-Splatter reicht, werden wir am Mittwoch im "House of Pain" mit Jörg Buttgereit besprechen. Markus Keuschnigg und meine Wenigkeit werden aber auch über Gummimonster und Rock’n’Roll, Genre-Mutationen und Gänsehaut mit der Berliner Horror-Ikone plaudern. Es wird ein heidnisches Freudenfest, da sind wir uns sicher!