Erstellt am: 24. 10. 2012 - 17:38 Uhr
Schwarz ist das neue Schwarz
Die beiden Herren von Raime sitzen wie zwei Fremdkörper in der rustikal-miefigen Lobby ihres Hotels nebeneinander auf einer Couch und rühren bedächtig und synchron in ihren Tassen Tee. Die beiden Engländer Tom Halstead und Joe Andrews haben sich mit ihrem noch immer recht frischen Projekt Raime einen der spannendsten Acts der jüngeren Vergangenheit ausgedacht - dabei sind sie weder übersprudelnd noch aufdringlich. Von Kopf bis Fuß sind Halstead und Andrews in Schwarz gekleidet, jedoch nicht in der Art von Schwarz, in der man auf Metal-Festivals oder der Gothic-Wave-Kneipe "Extremo" um die Ecke erscheint, sondern im frisch gestärkten, bis ganz nach oben hin zugeknöpften Hemd, einem sauber gebügelten Hoodie, neuer Baseballjacke, vergleichsweise eng und gerade geschnittenen Jeans und adrett geschnürten Halbschuhen. Distinguiertheit, das ist die Sache von Raime.

Johanna Kurkowska

Anna Spysz

Johanna Kurkowska
Raime hatten ihren ersten Auftritt überhaupt beim UNSOUND Festival 2010. 2011 waren sie mit einer Soundinstallation vertreten, dieses Jahr stellen sie in Krakau - wieder live - ihr demnächst erscheinendes Debütalbum vor. Raime sind ein prototypischer Act für das UNSOUND: Wie viele der 2012 ins Programm gebuchten Acts und Produzenten beziehen sie sich auf die eher dunklen und abgründigen Kapitel der Musikgeschichte: Industrial, elektronischer Postpunk, Dark Ambient, zähflüssiger, nach Rost schmeckender Dub-Techno. Der Auftritt von Raime im alten Engineering Museum, wo so eine Musik eben hingehört, ist dann auch einer der nun tasächlich nicht wenigen Höhepunkte des diesjährigen Festivals. Raime nicken, im Halb- bis Ganzdunkel stehend, wie in Zeitlupe über ihren Geräten, während sie die Sounds von sich schmerzvoll durch die Landschaft ziehendem Geröll hörbar machen. Mächtig und bedächtig schlägt alle heiligen Zeiten die Bassdrum zu. In dem im Hintergrund projezierten Film scheint ein Mann in jeder seiner in alle Ewigkeiten hinein zerdehnten Bewegungen große Qualen zu erleiden. Das Label, auf dem Raime ihre Platten veröffentlichen und das quasi nur aufgrund von Raime aus der Taufe gehoben wurde, nennt sich: Blackest Ever Black.

Johanna Kurkowska

Johanna Kurkowska
Philipp L'heritier
Das UNSOUND Festival wurde 2003 im rund 750.000 Einwohner starken Krakau von dem australischen Schriftsteller Mat Schulz, der heute auch noch als künstlerischer Leiter tätig ist, gegründet, und entwickelte sich schnell von einer lokalen Größe zum internationalem Dreh- und Angelpunkt für eine jetsettende musikalische Avantgarde, die dann doch noch immer eine Verknüpfung mit Pop beibehalten will. Oder umgekehrt. Das UNSOUND Festival ist ein Festival, das den seit drei, vier Jahren durch die Blogs spukenden Trend zur neuen Finsterkeit und zum diffus Okkulten abbildet - und, auch in enger Zusammenarbeit mit Partnern wie der Website Resident Advisor und dem Musikmagazin The WIRE, mitbefördert. Hier werden Derivate von Industrial, Noise oder auch garstiger Drone-Musik beleuchtet, die sich bei älteren Kalibern wie Throbbing Gristle, Current 93, Death in June oder, neuer, Muslim Gauze, die es vermutlich doch sehr ernst mit der Verstörung und der Angepisstheit meinten und meinen, in einem eher posenhaften Kunstgriff bedienen als tatsächlich total böse mit der Welt zu sein. Hipster-Industrial, der dabei jedoch um nichts weniger aufreibender, aufrührender und mitunter gar erhellender ist.
Philipp L'heritier

Johanna Kurkowska
Gut hundert Acts, Bands, Musiker, DJs und Vortragende hat das UNSOUND dieses Jahr nach Polen geladen, zum durchschlagenden atmosphärischen Erfolg trägt nicht wenig der Standortfaktor Krakau mit seiner touristisch-pitoresken, aber schon auch wirklich schönen Altstadt und dem "cooleren", alternativeren Viertel Kazimierz bei. Hier dürfen sich die Besucher durch ein gutes Dutzend Locations hangeln: Die Austragungsorte des UNSOUND sind weniger echte Clubs oder richtige Konzerthallen, sondern viel mehr, vielleicht ahnt man es schon, unter anderem ein Museum, eine Kirche, ein Offiziers-Kasino, eine Synagoge, ein Kino, noch ein Museum. Das Programm ist zwar dicht beladen, es gibt jedoch kaum zeitliche Überschneidungen, das Festival dauert nämlich eine Woche. Manche Locations werden nur ein bis zwei Mal bespielt, so bleiben die Dinge abwechslungsreich, mit ein wenig Überzeugungskraft in Richtung eigener Körper kann man hier eigentlich alles sehen und locker zu Fuß erreichen.

Johanna Kurkowska

Johanna Kurkowska
Neben dem Label Blackest Ever Black, das neben Raime den famosen Krachmeister Vatican Shadow an den Start schickt, ist auch das Label Tri Angle gut vertreten: Das einstige Epizentrum des Witch House setzt mittlerweile auch verstärkt auf schroffere Töne. Während der junge englische Produzent Evian Christ noch mit stark von HipHop und R'n'B beeinflussten, eher weich bouncenden Geisterbeats punkten kann, werden bei den Labelneuzugängen Vessel und Haxan Cloak schon unangenehmer im Magen liegende Glassplitter gestreut und böse Maschinengeräusche aufgefahren. Auch den irischen Musiker WIFE - anderes Label - wird man sich merken müssen: Der sonst bei der Black-Metal-Band Altar of Plagues musizierende Mann entwickelt einen filigran gearbeiteten Poststep-Entwurf, in den er sein dünnes Stimmchen hineinloopt. Eventuell wird irgendjemand einmal sagen: "WIFE - Der James Blake von der dunklen Seite".

Johanna Kurkowska

Johanna Kurkowa
Philipp L'heritier
Neben dem weltersten Auftritt der, ja, Industrialband aTelecine der ehemaligen Pornodarstellerin Sasha Grey, der sich dann - unter regem Publikumsszuspruch zwar - eher doch als leicht peinlicher Publicity-Stunt denn als die Darbietung von "interessanter" Musik erweist, gibt es auch so etwas wie Popmusik. Das UNSOUND ist nämlich eben gerade kein Festival ausschließlich für kunstsinnige Finsterlinge - den Ideen von Industrial und Apokalypse wird hier mit Humor begegnet: Das Thema das Festivals lautet zwar vage "The End" (der Welt, der Musikindustrie, der Festivalkultur etc...), wenn dies jedoch in Panels unter Teilname von unter anderem Techno-Legende Theo Parrish, Dub-Techno-Mann Pole oder Tim Hecker und Daniel Lopatin verhandelt wird, gibt es meistens auch etwas zu lachen. Lopatin verspricht, sich auch rechtzeitig in eine Höhle zu verziehen und, dann nach dem Ende der Welt, wenn alles verbrannt und verdorrt sein wird, bloß noch akustische Musik aus Klopfgeräuschen herzustellen.
Philipp L'heritier
Auf das dann doch eher streng ausgerichtete Tagesprogramm folgen am Wochenende ausgelassene Partys, fast schon könnte man sie Raves nennen, die auf drei Floors in einem - natürlich - schon ausrangierten, alten Hotel stattfinden. Weite Gänge, Holztäfelungen, vergilbter Teppich, hier wird im Stile des Overlook-Hotels aus "Shining" die Zukunft der Bass- und Tanzmusik gefeiert: Angesoulter Pop-Dubstep von Cooly G, Beat-Jongleur Kuedo, Juke von Traxman, Theo Parrish, Dubstep-Altmeister Mala mit seinem "In Cuba"-Projekt. Steile Neo-Disco von den Beautiful Swimmers, durch die Mangel gedrehter HipHop, World Beat und Trap Rap von Nguzunguzu und Fatima Al-Quadiri. Hier überschlagen sich die Euphoriemomente. "Das beste Festival Europas - naja, wir haben noch nicht außerhalb Europas gespielt - also vielleicht der Welt", sagt Joe Andrews von Raime über das UNSOUND. Ein Line-Up, das ganz weit draußen steht, ein theorie-versiertes und trotzdem nicht steifes, sondern ganz und gar feierlauniges Publikum, absurde Schauwerte, dunkle Musik für moderne Menschen.

Johanna Kurkowska

Johanna Kurkowska