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Marc Carnal

Wer sich weit aus dem Fenster lehnt, hat die bessere Luft. Lach- und Sachgeschichten in Schönschrift.

26. 10. 2012 - 20:01

Livebericht zur Echtzeitansage

Wir bleiben 24 Stunden wach, sitzen da und sagen jede Minute die Uhrzeit an. Ein Echtzeit-Blog zum Videoprojekt Echtzeitansage. Von Samstag, 2 Uhr bis Sonntag, 2 Uhr.

Kollege Max und ich, die Zwei-Mann-Boygroup vom Ron Tyler Archiv, hegen einen fragwürdigen Plan:

Nachdem die Anruferquote bei der telefonischen Zeitansage (0810 00 1503) durch die Allgegenwart von Uhren zusehends sinkt, wollen wir die schöne Idee der gesprochenen Uhrzeit um das visuelle Moment erweitern und dem digitalen Zeitalter eine würdiges Tool spenden.

Die Echtzeitansage

marc carnal

Am Samstag werden uns Kollege Max und ich an einen Tisch setzen, einige Sekunden vor 2 Uhr Früh den Satz "Mit dem nächsten Ton wird es 2 Uhr." sagen und um Punkt 2 eine Klingel schlagen.
Diese Prozedur wiederholen wir eine Minute später: "Mit dem nächsten Ton wird es 2 Uhr und eine Minute".

Das soll 24 Stunden, also 1440 Minuten beziehungsweise Klingelanschläge lang so weitergehen.

Diese 24 Stunden werden ohne Schnitt auf Video aufgezeichnet. Später wird dieses Video in Echtzeit und Dauerschleife auf einer eigens dafür eingerichteten Website abgespielt. So hat man hinkünftig nicht nur die Möglichkeit, im Internet rund um die Uhr verlässlich die mitteleuropäische Zeit zu erfahren, sondern auch, zu jedem beliebigen Zeitpunkt ein Dokument unseres geistigen und körperlichen Verfalls abrufen zu können.

Wer die Echtzeitansage um Mitternacht abruft, wird die fahlen Gesichter zweier zerstörter Männer sehen, die ihre gesamte Restenergie dafür mobilisieren, zum tausendsten Mal aus ihren verfilzten Mäulern zu pressen: "Mit dem nächsten Ton wird es 0 Uhr und 2 Minuten."

Echtzeit-Blog

Dieses herzzerreißend beknackte Vorhaben wird an dieser Stelle dokumentiert. Stündliche Stimmungsberichte mit Fotos, Selbstbemitleids-Tweets, Körperfunktions-Updates und Gedankenfetzen am Rande des Irrsinns.

02:12

Einen schönen guten Morgen aus der Zeit-Zentrale!

03:13

Kaffee, Leitungswasser, kalte Füße.
Schüttelreim-Versuch mit "Zeitansage":

Wir gründen nach der Zeitansage
womöglich eine Ei-Tanz-ARGE.

03:35

"Marc und Max sind für mich die mutigsten Männer Österreichs." (Ban Ki-moon)

marc carnal

Max befürchtet schon nach dem ersten Kaffee den Koffein-Tod. Bonus-Angst: Thrombose

04:35

Nachdem bei der Echtzeitansage neben dem sportlichen Aspekt vor allem der wissenschaftliche Nutzen im Vordergrund steht, werden unzählige Daten gesammelt. Wer raucht wieviel? Welche Koffein-Dosis treibt den Zeitansagenden zu Höchstleistungen? Wie lässt sich ein unkontrollierbares Trödeln vermeiden?

Mit diesen Daten wollen wir künftigen Generationen von Zeitansagern ein Höchstmaß an Sicherheit bieten.

marc carnal

05:57

Die Saalwette: Wie weit brennt unsere Supersize-Kerze in den 24 Stunden herunter?

Erste massive Ermüdungserscheinungen. Max frisst Mandarinen. Wann werden endlich Mandarinen ohne Fäden gezüchtet?

Gleich haben wir ein Sechstel der Zeit hinter uns bzw. angesagt. Es ist zehrend. Man muss sich Ablenkung suchen, liest, isst und plaudert. Trotzdem darf man nie die Zeit aus den Augen verlieren. Beim nächsten Signalton wird es 05:58.

07:00

"Das ist ein Projekt für die Ewigkeit."

marc carnal

Nachdem Kollege Max vergessen hat, ansprechende Lektüre mitzunehmen, versorge ich ihn mit Schmankerln aus der Hausbibliothek.

08:08

Mission to the edge of time.

Frühstück. Was wir frühstücken, wird hier nicht erwähnt. Es geht niemanden etwas an. Privatsache. Der Mensch braucht Geheimnisse.

Nebenbei prüfen wir gegenseitig Synonyme ab. Quelle: "Wie sagt man noch?", Bibliographisches Institut AG, Mannheim 1968. Max glänzt mit dem Synonyme "Kabale" für "Arglist". Mir fällt keines für "Interesse" ein. Kein Interesse.

Es ist ein bisschen langweilig, stundenlang die Zeit anzusagen. Erst ein Viertel ist erledigt. Ich habe das Gefühl, dass wir seit Stunden nichts anderes tun, als jede Minute diese entsetzliche Klingel anzuschlagen. Das Gefühl ist berechtigt.

08:26

marc carnal

Tun, was zu tun ist. Schichtbetrieb. Schlummerfunktion.

09:10

Ein Job mit klar definiertem Zeitdruck.

Die Hoch- und Schwächephasen wechseln sich in immer kürzeren Phasen ab. Das Sitzen wird zusehends unbequemer. Dritter Kaffee, bereits einen Liter Wasser getrunken.

Max führt penibel Protokoll über etwaige "Höhepunkte", weil wir natürlich keine Lust haben, uns das Video in voller Länge anzusehen. Preview auf die nächste Stunde: Ein exklusiver Auszug aus dem Protokoll. Man darf gespannt sein!

10:05

Auszug aus Maxens Protokoll:
3:15 Marc isst einen Schoko-Muffin. Max verneint.
3:22 ISO-Norm 554 wird erklärt. "Ein Stift kann bis zu 2 Wochen ohne einzutrocknen offenliegen"
4:03 Max erklärt Postkarten-Motive
4:25 Max hat Magenschmerzen und geht aufs Klo
4:43 Bauernwitze
4:46 Max ist müde. Marc redet auf Max ein. Der Trottel.
5:49 Max: Mandarinen essen
6:08 Marc erklärt, dass Thunfischnudeln nach 3 Tagen im Topf sehr stinken.
7:02 Max geht duschen
7:22 Max kommt zurück.
8:17 Max überlegt Ausstiegsszenarien.
8:34 Indische Witze
8:48 Marc lacht 1 Minute

marc carnal

"Sometimes you have to wait really long to understand how small you really are."

11:10

Der Eindruck, dass der Herr im Hintergrund nur noch bedingt Herr seines Bewusstseinszustandes ist, trügt. Vielmehr wurde hier der Auslöser in einem ungünstigen Moment betätigt. Jeder Mensch muss mal blinzeln. Max ist am Zenit seiner Leistungsfähigkeit (Bewusste Übertreibung aus Motivationsgründen).

11:45

Audio-Sneak Peak:

12:45

Mittagessen: Gulasch. Das "Bing!" der Mikrowelle ertönt synchron mit der Klingel. Die kleinen Freuden im Alltag des Zeitansagers.

marc carnal

Herr Josef besucht uns und bringt uns ein Bild des Grazer Uhrturms und die CD "Time of my life" mit. Das Bild soll eine Anspielung auf Graz sein, weil wir diese schöne Stadt sehr schätzen.

Herr Josef sieht uns einige Zeit entsetzt zu und muss bald erkennen, dass nur eines langweiliger ist, als die Zeit anzusagen: Zwei Herren am Rande des Kreislaufzusammenbruchs dabei zuzusehen, wie sie ebendies tun. Sein Mitleid war jedenfalls unüberspürbar (Unwort des Jahres) und tat uns wohl.

14:05

Halbzeit! Zwischen 14 und 15 Uhr wird eine Fitness-Stunde eingelegt. Turnübungen, um die Thrombosegefahr etwas zu bannen, Obstverzehr, Stoßlüftung und Rauchverbot.

Max liest die Autobiographie von Hans Krankl. Widmung: "Dieses Buch widme ich meinen Eltern, meiner Frau, meinen Kindern Sandra, Johann und Maria und allen echten Freunden sowie Clint Eastwood." Clint Eastwood ist eben kein echter Freund.

"Österreich ist stolz auf Ihre Leistung!" (H. Fischer)

14:47

Dank Turnübungen wieder vor Kraft strotzend.
Weiterer Auszug aus Maxens Protokoll:

marc carnal

9:16 Müllabfuhr
9:21 Marc fürchtet das Gefängnis, weil er seine Vergangenheit ausplappert
9:24 Musikeinlage: Berlin (wir wollten doch zusammenziehn)
10:42 Marc bedroht Max mit einer Pistole
11:14 Marc spielt "Somewhere over the rainbow" auf der Ukulele
13:17 Lebensmotto Max
13:37 Marc bekommt eine Verwarnung, weil er auf die Klingel drischt
14:01 Standard-Rätsel

"Ich habe kurz gedacht, ich verliere das Bewusstsein" (Max)

16:00

marc carnal

Max (links im Bild) weint ob der Zwiebeln (nicht im Bild), während die Vorbereitungen für das Abendessen laufen. Dieses Foto bietet Fans die Gelegenheit, den schönsten Mann von Wien beim Schneiden vor Karotten zu betrachten. Er macht es sehr geschickt. Die Kerze (Vordergrund) will dagegen einfach nicht runterbrennen. Unsere Wetten (siehe Anfang) können wir vergessen.

Max verspricht sich zum ersten Mal und sagt 16 Uhr 59, obwohl es erst 15 Uhr 59 ist. Jetzt mal nicht schlapp machen!

17:07

Schön langsam wird die ganze Chose zäh. Wir sitzen jetzt nach stolzen zwei Stunden Schlaf seit über 15 Stunden durchgehend an unserem Tisch und sagen weiterhin eisern jede Minute die Uhrzeit an. Unsere Konzentration wird aber immer schlechter. Wir stolpern hie und da sogar über den schon fast tausendmal ausgesprochenen Standardsatz vor jeder vollen Minute.

Soeben liest Max Gedichte von Stefanie Werger vor.

Zwei Riesenteller Spaghetti verschlungen. Ich habe wohl noch nie bis 17 Uhr so viel gefressen. Aus reiner Langeweile. Beim nächsten Signalton wird es 17 Uhr 8.

Die Reserven schwinden. Erneute Turn-Unterbrechung wird angedacht.

"Ich bin nicht geil auf die Zeit, aber die Zeit macht ein Ziel erst wertvoll. Daher gehört die Zeit dazu.“ (Marc)

17:58

marc carnal

Joseph schenkte mir seine Lust
seinen Geruch
seinen Körper
kopflose Schwüre
und ein ungeschicktes Vorspiel.
Ich schenkte ihm einen Orgasmus.

aus: "Gegengeschenke" von Stefanie Werger.

Die Klingel ist so laut. Jeder "Signalton" macht Kopfweh. Die Sessel sind so unbequem.

Jetzt aber genug der Jammerei und den Endspurt in Würde über die Zeit (haha) bringen. In der nächsten Stunde wieder Protokoll.

18:57

Dritter Auszug aus Maxens Protokoll:
15:03 Max fängt eine Weintraube mit Mund
16:25 Max zieht Hemd aus zum Spaghetti essen
17:03 Latein Deklinationen
17:38 Marc geht Zähneputzen
17:49 Steffi Werger Beatboxing
18:00 Zeit für Musik (Akkordeon)
18:48 Diskussion "Alkohol - Fluch oder Segen"

Max ist davon überzeugt, unsere mittlerweile katastrophale Stimmung mit Alkohol heben zu können. Ich nicht. Wir können uns nicht einigen und sind etwas verstimmt.

19:39

Kompromiss: Bier um 20 Uhr. Lerne gerade ein Grantpotenzial an mir kennen, das ich gar nicht geahnt hätte. Mein rücksichtsloser Kollege gießt nur Öl ins Feuer und ärgert mich permanent. Unsere Nervenkostüme gehören in die Reinigung. Wenn es mit Bier nicht besser wird, kann ich für nichts garantieren, denn Mäxchen rüttelt schon ordentlich am Watschenbaum. Mit dem nächsten Signalton...AAAHHHH!

20:20

marc carnal

Alles nur gespielt? Wurden die armen Leserchen von den schelmischen Marc'nMax etwa gefoppt? In alter Eintracht sieht man die beiden Zeit-Pioniere auf diesem Bilddokument und man wird den Verdacht nicht los, der Zwist aus dem vorherigen Eintrag sei nur im Dienste des Spannungsbogens inszenziert worden. Doch weit gefehlt! In Wahrheit haben sie sich nach über 18 Stunden Zeitansage einfach zu finalem Alkoholkonsum durchgerungen und schmiegen sich nun in wohliger Bierseligkeit aneinander. Es ist ein Spaß. Mit dem nächsten Signalton wird es 20 Uhr 21.

21:06

marc carnal

Spitzenidee für zwischendurch: Pfefferoni-Wettessen.

Max-Protokoll:
19:07 Marc vergisst, zu klingeln. Dritte Verwarnung!
19:14 Barbara Streisand (gepfiffen)
19:31 Max versucht mit allen Mitteln, seinen mieselsüchtigen Freund Marc aufzubauen, aber dieser zieht Selbstmitleid vor.
19:33 Marc verlässt den Raum
19:48 Zwei Bierflaschen wurden geöffnet
20:10 Max analysiert das Parkplatz-Raubrittertum.

Ich werde immer unkonzentrierter. Habe schon zweimal vergessen, die Klingel anzuschlagen.
Max behauptet zuerst, in Topform zu sein, fünf Minuten später fühlt er sich krank, dann setzt er sich einen Scoville-Battle mit milden Pfefferonis in seinen Dickschädel.

Ich habe in den letzten 19 Stunden kein einziges Mal an Sex gedacht.

Interessant: Obwohl man sich einen ganzen Tag ausschließlich darauf konzentriert, kann man die Dauer einer Minute mit der Zeit immer schlechter einschätzen.

21:34

Man fühlt sich wie ein Tier in einem Tierversuch, bei dem es keine Belohnungen gibt.

22:45

Tisch aufgeräumt, wieder auf Wasser umgestiegen. Mit der Abgeklärtheit von erfahrenen Zeitansagern biegen wir in Trance die letzten Stunden herunter.

Ich habe jegliches Zeitgefühl verloren. Die eine Stunde vergeht im Flug, die nächste scheint wieder ewig zu sein.

Schön: Ein Video zu produzieren, das sich mit ziemlicher Sicherheit niemand zur Gänze ansehen wird, obwohl es die Möglichkeit gäbe.

00:10

marc carnal

Da kann die Arbeit noch so strapaziös sein, Steier-Marc und Gaudi-Max, die kreuzfidelen Zeitansager vom Dienst, bringen immer eine gehörige Portion Hamour mit und sind sich natürlich nicht zu schade, die mitternächtliche Stund mit atemberaubenden Special Effects zu würdigen.

Doch nun geht es die nächsten knapp zwei Stunden wieder in gewohnter Seriosität weiter. Noch 110 Minuten, noch 110 Signaltöne.

Beim nächsten Signalton wird es 2 Uhr.

Geschafft. Aus, Ende, vorbei.
Danke für Aufmerksamkeit und Anteilnahme!

Nächstes Jahr ist die Echtzeitansage dann Tag für Tag in voller Länge verfügbar.

Bis dahin schlafen wir uns erst mal aus.
Gute Nacht!

marc carnal