Erstellt am: 18. 10. 2012 - 10:54 Uhr
Flügge werden
Er dirigiert unsere Nasen und Arme. Der Bruder und ich reißen die Messer in die Luft und schmeißen die Köpfe zurück. Wir steigen vom Boden auf die Sitzbank und auf den Esstisch. Der Großvater bläst uns als Wind entgegen und ruft die Namen der Himmelsrichtungen. Die Großmutter ruft: Landung!, und setzt mit der Schürze das Signal.
Wallstein Verlag
In Teresa Präauers Roman weißt man oft nicht, was real ist und was nicht. Ein im Buch nur als Bruder und Schwester bezeichnetes Geschwisterpaar verbringt den Urlaub am großelterlichen Hof, der eine Vielzahl an Hühnern, Fasanen und Ziervögeln beheimatet. Täglich bekommen sie eine Karte von den Eltern, die sich auf Weltreise befinden. Ihr Großvater, der Kampfpilot im zweiten Weltkrieg war, sieht das Fliegen als Privileg und Rüstzeug, das man anlegen muss, um sicher und überlegen durchs Leben zu kommen. Das will er seinen Enkeln beibringen und erteilt den Kindern in aberwitzigen Spielen fantasievollen Flugunterricht mit selbstgemachten Flugkostümen.
Drei Erzählstränge
"Für den Herrscher aus Übersee" ist in drei ineinander übergehenden Erzählsträngen strukturiert. Etwas anderen Flugunterricht hat die "Fliegerin" im zweiten Erzählstrang einer Schar Wildgänse erteilt, die sie nun mit einem kleinen Flugzeug ins weit entfernte Winterquartier begleitet. Sie hat die Schar großgezogen und ist nun auf dieser Mission, deren Erfüllung die schmerzliche Erfahrung des Abschieds und der Trennung von den Vögeln bedeutet.
Fliegen und leben lehren
Das Fliegen bedeutet für die Protagonisten Unabhängigkeit und Emanzipation und etwas, das in "Für den Herrscher aus Übersee" gelehrt wird. Die Pilotin bringt den jungen Gänsen das Fliegen bei. Und neben dem Fliegen glaubt der Großvater auch, den Kindern den Ernst des Lebens beibringen zu müssen, wenn er das Lieblingshuhn des Geschwisterpaares vor ihren Augen köpft. Das Leben, das Erwachsenwerden muss erlernt werden. Doch was ist dieses Erwachsensein, das hier angestrebt werden soll, existiert es wirklich oder ist es nicht schlicht eine Konstruktion? Das Geschwisterpaar in Teresa Präauers Roman spricht in den Dialogen eine gehobene, lyrische, fast antiquierte Sprache. Der Tod bzw. das Sterben ist für sie nichts Bedrohliches, sondern Lebensrealität. Im Laufe der Geschichte versuchen sie sich auch das Fliegen zunehmend selbst anhand eines Flugbuches beizubringen, und auch das Lesen erlernen sie anhand der Postkarten, die ihnen die Eltern aus abenteuerlichen Ländern schicken, Buchstaben für Buchstaben, Karte für Karte.
Kindlicher Großvater
In gewisser Weise wirken sie erwachsener als die Großeltern, deren cholerische Streitereien die beiden Geschwister abgeklärt beobachten. Im Gegenzug dazu wird der Großvater wieder zum kindlichen Jugendlichen, als er dem Geschwisterpaar eine weitere Lebenslektion erteilen will und die Geschichte seiner großen und unerfüllten Liebe erzählt, was den dritten Erzählstrang des Romans bildet. Weil er es zur Zeit des Krieges nicht rechtzeitig schafft, ihr abgestürztes Flugzeug zu reparieren, wird sie von unbekannten Rettern aufgelesen und verschwindet aus seinem Leben.
Die Lebensweisheiten, die der Großvater dem Geschwisterpaar beibringt, scheinen sie oft längst schon zu kennen. Und auch die Gänse der Fliegerin können längst schon besser fliegen als ihre Ziehmutter.
Bald sind sie mir in allem überlegen gewesen, und als sie die ersten Male selbstständig in die Luft gestiegen sind, ohne dass ich im Fluggerät gesessen bin, da bin ich stolz gewesen.
So verhandelt Präauers Roman die Themenkomplexe von Entwicklung, Emanzipation und Erwachsenwerden sanft, unaufdringlich und witzig. Was im Text an verschiedenen Stellen versucht wird zu lehren, stellt sich an anderen Stellen als schon längst vorhanden heraus. "Für den Herrscher aus Übersee" ist mehr Erzählung als Roman und erinnert auf sehr knappen 137 Seiten entfernt an Antoine de Saint-Exupérys "Der kleine Prinz". Die auffällige Kürze des Romans kommt der Art der Verarbeitung der Thematik zu gute. So behält das Debüt in seiner Knappheit, Dichte und in seinem durchdachten Aufbau die poetische Kraft und Relevanz, die im Oktober dieses Jahres auch schon mit dem "aspekte"-Literaturpreis des ZDF, einem mit 10.000 Euro dotierten Preis für das beste deutschsprachige Prosa-Debüt, gewürdigt wurde.