Erstellt am: 9. 10. 2012 - 14:07 Uhr
Reise nach Kalino
Alles beginnt mit einem Anruf.
Während das Telefon klingelt, beginnt der in die Jahre gekommene Detektiv Julius Werkazy seelenruhig das Wort "Araukarie" rückwärts zu buchstabieren. Die dafür benötigten zehn Sekunden sind nämlich genau jene Zeitspanne, die dem Anrufer nicht verrät, dass Julius auf Aufträge lauert, da die Detektei beständig den Bach runter geht. Und er stellt dadurch sicher, immer noch früh genug den Hörer abzuheben, bevor der potentielle Kunde das Warten aufgibt.
Als Julius sich mit seinem Nachnamen meldet, ahnt er noch nicht, dass das folgende Gespräch seien Leben für immer verändern wird.
Irgend etwas stimmt hier nicht
F. Osmos ist der Gründer der sagenumwobenen Stadt Kalino. Bis jetzt hat noch niemand einen Fuß in das von der Außenwelt komplett abgeschottete Territorium setzen dürfen. Ausgerechnet der Schnürlsamthosenträger Julius Werkazy wird von Osmos beauftragt, einen Mord in der an sich perfekten Welt von Kalino aufzuklären.
Piper Verlag
Julius wird von seinem Partner Bruno mit einem speziellen Sender ausgestattet und schon sitzt der von Magenschmerzen geplagte Detektiv in einem Hochsicherheitszug, der ihn direkt ins Herz von Kalino befördert. Werkazy staunt nicht schlecht, als er sofort mit der Bezeichnung "Papiergesicht" angesprochen wird, die das Volk der Kalianer auf "normale" Menschen anwenden. Denn sie selbst sind braungebrannt, immer entspannt und locker, wirken kerngesund und sind darüber hinaus davon überzeugt, unsterblich zu sein.
Die Uhren in Kalino ticken also definitiv anders. Der Gründer F. Osmos überwacht alle permanent mit Hilfe seines "Translokationsschirms", wobei er sich selbst nie in der Öffentlichkeit zeigt und seine knabenhaften Portraits in der ganzen Stadt den gottähnlichen Status unterstreichen. Aber auch die Kalianer scheinen nicht zu altern, denn Stressvermeidung steht an erster Stelle. Deshalb wird jede zwischenmenschliche Interaktion vorab mit virtuellen Programmen genau durchgespielt, damit beim realen Treffen keine unvorhergesehenen Komplikationen auftreten, die wiederum Stress verursachen könnten. Neben extra produzierter "Supernahrung" lernen die Bewohner Kalinos durch die sogenannte "Extraktion", bei der alle "schlechten" Eigenschaften und Angewohnheiten aus ihren Köpfen entfernt werden.
Aber wie kommt es dann in solch einer scheinbar perfekten Gesellschaft zu einem Mord? Und warum sollte gerade der abgehalfterte Detektiv Werkazy das mysteriöse Rätsel lösen können? Je tiefer Julius in die kalianische Welt eintaucht, umso fragwürdiger wird, ob der altmodische Kriminalist mit seinem Leben davonkommen wird.
Kutschkermarkt statt Indien
Der in Polen geborene und schon lange in Wien lebende Autor Radek Knapp hat mit seinen Büchern wie "Franio" oder "Herr Kukas Empfehlungen" unzählige Leser begeistert. Die gewitzte und pointierte Sprache und die Art, seine osteuropäischen Wurzeln mit den Erfahrungen in der westlichen Welt zu vermischen, haben ihm Preise und Erfolg beschert. Auch sein letzter Roman "Papiertiger", eine schafzüngige Analyse des deutschen Literaturbetriebes, bestach durch liebevoll skurrile Charaktere und unbändige Erzähllust.
Doch nach dem eigenwilligen Reiseführer "Gebrauchsanweisungen für Polen" wurde es still um den quirrligen Autor. Wenn man Radek Knapp fragt, was in den letzten sieben Jahren passiert sei, antwortet er ganz gelassen, er könne ja nicht immer Schriftsteller sein. Während sich viele seiner Kollegen auf einsame Spaziergänge durch die Welt begeben haben oder nach Indien gereist sind, um sich selbst zu erkennen und zu finden, ging Radek nur ein paar Meter von seiner Wohnung zum Kutschkermarkt, um dort Gemüse zu verkaufen und so wieder in der "realen" Welt anzukommen. Wie und über was solle er sonst Bücher schreiben können?
Thomas Lehmann
So ist "Reise nach Kalino" viel mehr geworden, als lediglich eine klassisch konstruierte Detektivgeschichte. Auch wenn der Spaß und die Unterhaltung groß geschrieben werden, macht sich unterschwellig eine unangenehme, teils auch beklemmende Stimmung breit. Schließlich findet man in den gesellschaftlichen Konzepten und Systemen von Kalinos - wenn auch zu unterschiedlichen Graden - Parallelen zur eigenen Lebenssituation. Denn was der große Bösewicht F. Osmos in seinem Herrscherwahn aufgebaut hat, kann als übersteigerte Ausformung unseres neoliberalen Wirtschaftssystems gesehen werden. Die Mechanismen, die in Kalino greifen sind genau die gleichen, wie in unserer Welt.
Radek Knapp schwingt sich nicht mit erhobenem Zeigefinder zum Weltverbesserer auf. Seine recht schlichte und doch eindringliche Erzählung besticht durch die perfekte Mischung aus Witz, Unterhaltung und utopischer Gegenwartsspiegelung. Mit viel Gefühl und stark reduzierter Sprache entspinnt der polnisch-österreichische Autor eine dichte Atmosphäre zwischen George Orwell, Paul Auster, Philip K. Dick und Science-Fiction wie in der Serie "The Prisoner". Gleichzeitig ist Radek Knapp sehr nah an der gesellschaftlichen Gegenwart und lässt uns zwischen den Zeilen genau spüren, welche Ausstiege es aus dem alltäglich schneller werdenden Hamsterrad gibt. Genau deshalb macht "Reise nach Kalino" auf vielen verschiedenen Leseebenen Spaß und lässt gleichzeitig auf einen zweiten Fall von Julius Werkazy hoffen.
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