Erstellt am: 10. 10. 2012 - 15:02 Uhr
Such(t)maschinen
Renata Delpe bittet ihr Gegenüber um Vergebung. Sie faltet die Hände, schließt die Augen, denkt an Donald. Es ist erst einige Wochen her, dass ihr jüngster Sohn dem Krebs erlegen ist, nun ist sie allein. Ihr Mann Jim verschanzt sich seither im Büro, ihr ältester Sohn Jeff ist seit Tagen verschwunden. Hoffentlich ist ihm nichts passiert. Renatas Familie droht zu zerbrechen, ihr einziger Trost ist die Hinwendung zu "Gott", ihrem namenlosen Gegenüber. Renata öffnet die Augen, hofft auf seine Antwort. Aber das Chat-Fenster bleibt leer. Renata hat das Internet entdeckt.
Jeff bleibt unauffindbar. Verschwinden Menschen, werden ihre medialen Fußabdrücke zu ihren Spuren. Also durchforstet Renata die SMS ihres Sohnes nach Hinweisen, ihr Mann Jim klickt sich durch die Ordner auf Jeffs Laptop. Und in der Tat: Jeff mag zwar wie vom Erdboden verschluckt sein, ist im digitalen Raum aber anscheinend noch höchst aktiv. Als „Merchant of Menace“ gilt Jeff als einer der mächtigsten Kriegerfiguren der Online-Spielewelt "LOL: Life of Lore", dem größten digitalen Erzählexperiment seit "World of Warcraft". Jim hat von all dem Computerzeug keine Ahnung, aber es kommt ihm ein Gedanke: Wenn er seinen Sohn in der realen Welt nicht findet, vielleicht ja in der virtuellen.
Lost and Found
Diogenes
Die Online-Suche nach dem Sohn gestaltet sich schwieriger als gedacht. Denn "Merchant of Menace" ist auch online nicht für seinen Vater zu sprechen. Immerhin, er lebt noch: Weist er doch Neulinge gegen Bezahlung in die Regeln und Gefahren von "Life of Lore" ein. Um seinem Sohn näher zu kommen, bettelt Jim ihn getarnt um Instruktionen an und wird von diesem sogar online von ein paar Söldnern beschützt - sein Sohn rettet ihm praktisch das virtuelle Leben.
Aber Vater und Sohn kommen sich deshalb noch lange nicht näher, ganz im Gegenteil. Die Online-Wirklichkeit entblößt so manche Abgründe im Leben des Sohnes, die im Realen nicht einmal erahnt werden konnten. Der Sohn ist nämlich im Online-Spiel nicht nur ein muskulöser Krieger, sondern auch ein devoter Sex-Sklave. Der Papa wiederum fängt sich im Cyber-Kosmos etwas mit einer blonden Minderjährigen namens Kayla an - die zumindest virtuell schwanger von ihm wird. Jim verbringt die Hälfte seiner Arbeitszeit im Internet. Die Klienten seiner Anwaltskanzlei sind ihm herzlich egal, eine Schlamperei bringt ihm eine Klage in Millionenhöhe ein. Seine Frau Renata hat sich auch von der Wirklichkeit abgekehrt: Sie schreibt neue Statusmeldungen auf dem Facebook-Account ihres toten Sohnes Donald und chattet weiterhin eifrig mit "Gott". Virtuell und real - diese beiden Welten scheinen in diesem Text immer weiter auseinander zu driften: Bis Jim eine SMS erhält: "Kann ich dich anrufen? In Liebe, Kayla". Und bevor Jim sich fragt, wie die virtuelle Kayla an seine reale Nummer gelangt, fragt er sich, wie er aus diesem Albtraum wieder herauskommt.
World of Warcraft
Hyperrealitäten
Wenn der französische Medientheoretiker Jean Baudrillard in seinem 1972 erschienenen "Requiem für die Medien" von sogenannten "Hyperrealitäten" spricht, meint er Scheinwelten. All das, was wir über Massenmedien wahrnehmen, sei nach Baudrillard wichtiger und wirklichkeitsmächtiger geworden, als die Wirklichkeit selbst. Diese medienkritische These scheint auch der neuseeländische Schriftsteller Anthony McCarten in seinem Roman "Ganz normale Helden" zu vertreten, wird sein Text doch eingeleitet von einer deprimierenden Statistik über die Tücken des Internets. Sie besagt, dass jeder Zweite online zum Lügner wird, sogar zwangs- oder suchtgefährdet. Quelle dieser apokalyptischen Zahlen über die neuen Medien ist, wen wundert es, ausgerechnet das Internet.
Und so ist "Ganz normale Helden" auch eine Geschichte über die Kritik an neuen Medien. Historisch betrachtet finden wir diese immer wieder, angefangen bei Sokrates, der vor den Tücken der Schrift warnte bis zur Angst vor der digitalen Demenz, in der die Onlinenutzung als düsterer Weg zu Kontrollverlust, sozialem Abstieg und Depressionen beschrieben wird. Der englische Originaltitel von McCartens Buch trifft diesen Kern noch besser, lautet er doch "In the Absence of Heroes". In der Abwesenheit der Helden flüchtet die Familie Delpe nämlich nicht etwa in Drogen oder Alkohol, sondern ins Internet. Die Mutter findet dort religiösen Beistand, der Vater verliert sich in den Tücken eines Online-Rollenspiels und Sohn Jeff versucht online wie eigentlich alle anderen auch, den Tod des krebskranken Bruders zu verarbeiten. Denn McCartens Roman ist die Fortsetzung seines Bestsellers "Superhero", der Geschichte des krebskranken Donald Delpe und dessen Flucht in ein weiteres Medium, den Comics. Und so sind es ausgerechnet diese Comics, die sein Bruder Jeff am virtuellen Kunstmarkt in "Life of Lore" zu einem hohen Preis verkauft - dem kleinen Bruder wird dort posthum die Ehre zuteil, die er in der Wirklichkeit nie bekam: Er wird zum berühmten Künstler.
Dioegenes
Weitere Leseempfehlungen:
McCartens Text ist aber auch eine Geschichte über die Kluft zwischen Generationen. Immer schon getrennt vom Film- und Musikgeschmack, stolpern hier die Eltern ihren Kindern in die Virtualität nach, fast schon naiv prallen Online- und Offline-Welten aufeinander. Die Eltern sind dem Internet schutzlos ausgeliefert. Die reale Welt scheint ohnehin keinen Trost mehr zu spenden, aus Verzweiflung bleiben hier nur die Scheinwelten. Die Protagonisten dieses Buches sind immer auf der Suche nach dem Halt, den sie im realen Leben nicht finden.
McCarten gibt keine Moral vor, aber doch den Eindruck, dass wir alle Amateure im Netz sind. Oder um es mit einer der wesentlichsten Erkentnissen der Medienwissenschaften zu sagen: Es ist nicht wichtig, was wir mit den Medien anstellen, sondern vielmehr diese mit uns.