Erstellt am: 8. 10. 2012 - 21:18 Uhr
Bedrohliche Nähe
Es hat nicht sollen sein. Wieder nicht. Wie schon 2009, als es Clemens Setz mit seinem Roman "Die Frequenzen" auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat, muss er auch heuer mit "Indigo" jemand anders den Vortritt lassen, diesmal Ursula Krechel mit ihrem historischen Roman "Landgericht".
Clemens Setz galt ohnehin nur als Außenseiter auf den Preis, aber nicht wegen der literarischen Qualität von "Indigo". Vielmehr sei es dessen vermeintlich fehlendes Potential zum Bestseller gewesen, das ihm die Chancen geraubt hat. Denn, so unterstellen es KritikerInnen, der einzige Zweck des Deutschen Buchpreises sei es, die Verkäufe anzukurbeln.
Paul Schirnhofer
Und ein sperriges und experimentelles Buch wie "Indigo" sei eben keine Massenware, besonders, wenn es in einem solch düsteren Umfeld angesiedelt sei, in dem Kinder mit einer seltsamen Krankheit auf die Welt kommen, dem Indigo-Syndrom.
Das Indigo-Syndrom
Niemand weiß woher das Indigo-Syndrom kommt, aber sein erstes Auftreten ist in England festgestellt worden. Jeder, der sich in der Nähe eines Indigo-Kindes aufhält wird von Kopfschmerzen und Schwindel befallen und muss sich innerhalb kürzester Zeit übergeben. Am schlimmsten nimmt das die Mütter der Indigo-Kinder mit, denn sie können sich am Wenigsten von ihren Liebsten trennen, die inzwischen zu Parias geworden sind, zu Unberührbaren. Sie werden in Institute und Heime abgeschoben, von ihren Familien und der Gesellschaft abgesondert.
An einem dieser Institute, der Helianau in der Steiermark, tritt der junge Mathematik-Lehrer Clemens Setz, der Protagonist trägt Namen und Züge des Autors, sein Unterrichtspraktikum an, weil sonst die Stellen knapp sind. Doch sein Engagement dauert nicht lange. Er beobachtet mysteriöse Vorgänge im Institut, am Pausenhof werden Kinder arg gemobbt und von Zeit zu Zeit wird eines von ihnen in einem Kostüm von Unbekannten abgeholt, reloziert im internen Sprachgebrauch.
Nachforschungen ins Blaue
Der junge Lehrer provoziert einen Streit mit dem fanatischen Schulleiter und wird gekündigt. Setz vermutet eine große Verschwörung rund um die Indigo-Kinder und beginnt Nachforschungen anzustellen. Er sucht eine Spezialistin auf, kontaktiert Familien von I-Kindern und sammelt allerhand Daten und historische Belege für die Krankheit. Dabei stößt er auf eine Organisation, die das Potential von I-Kindern nutzen möchte und auf einen gewissen Ferenc, den scheinbaren Drahtzieher der Verschwörung.
Doch wie in einem Kafka-Roman kommt Setz bei seinen Nachforschungen nicht wirklich vorwärts. Er wird von einer Person zur nächsten geschickt, aber nirgends erfährt er Substanzielles. In Gesprächen bekommt er selten Antworten auf seine Fragen, sondern nur Geschichten aufgetischt, die er nicht kapiert. Anstatt zur Erkenntnis zu gelangen, verliert er Schritt für Schritt verliert er den Anschluss zu seinem früheren Leben. Schlussendlich wird er sogar in einem Mordprozess angeklagt, einem rumänischen Tierquäler die Haut abgezogen und dadurch umgebracht zu haben.
Ausgebrannt
Zu diesem Zeitpunkt, im Jahr 2021, hat die Erzählperspektive bereits gewechselt, vom Mathematiklehrer Setz zu Robert, einem seiner ehemaligen Schüler. Bei ihm hat sich die Indigo-Krankheit am Ende seiner Jugend ausgebrannt, nach und nach ist die schädliche Wirkung für seine Nächsten zurückgegangen. Geblieben sind gewisse Gedankenaus- und Wutanfälle, doch auch die bekommt er in den Griff, mit starken Medikamenten oder seinem Über-Ich, dem Serien-Batman aus den 1960er Jahren, der ihm mit altklugen Sprüchen den richtigen Weg zu weisen versucht.
Seinen ehemaligen Lehrer hat er nur noch als Totalversager in Erinnerung, als Alkoholiker, der weder in der Klasse, noch bei ihm zuhause Haltung bewahren konnte. Sein Schicksal lässt Robert gleichgültig, bis auch er mit Ferenc in Kontakt kommt, der ihm seltsame Fragen stellt.
Horrorvariante der Konstruktionslust
Der Autor Clemens Setz hat mit Indigo ein Romanmonster abgeliefert, voller Gewalthandlungen und Schreckensbildern. Menschen als auch Tiere werden eingesperrt, gefoltert und geprügelt, wobei den LeserInnen meist der Sinn dahinter verschlossen bleibt.
Die beiden Erzähl- und Handlungsstränge ergeben ein dichtes Konstrukt. Sie werden achronologisch erzählt und dazu dauernd durch Dokumente, Notizen und Rechercheergebnisse unterbrochen, die typographisch vom Fließtext abgesetzt sind. Dutzende Zitate und popkulturelle Verweise (von MacGyver über Bob Ross zu Star Trek) legen ständig neue Fährten aus, die auf ein verborgenes Talent des Autors deuten.
Clemens Setz kann nämlich auch anders, als seine LeserInnen zu schocken, witzig sein etwa. So schildert er in einer kurzen Episode einen Dokumentarfilm über ein Pärchen mit Tourette-Syndrom, die nicht wissen, wie sie streiten sollen, weil Schimpfwörter bei ihnen eine komplett andere Bedeutung angenommen haben. Oder wenn Robert mit seiner Freundin Internet-Pornos ansieht und bei den Bukkake-Szenen immer an eine bestimmte Indiana-Jones Szene denken muss und seine Erektion verliert.
Herausforderung an die LeserInnen
Suhrkamp
"Indigo" ist ein fordernder Roman, nicht nur auf textlicher Ebene. Die ständige Unruhe und das Bedrohungsgefühl, die Getriebenheit und die harten Bilder können seinen LeserInnen durchaus auch den Schlaf rauben. Auch deshalb sind Clemens Setz Roman vor der Vergabe des Deutschen Buchpreises nur Außenseiterschancen eingeräumt worden.
So schreibt etwa Richard Kämmerlings in der Welt, Setz' Roman sei "eine Literatur, die bei vielen einen Nerv, aber kaum den Geschmack treffen wird. Unter den Weihnachtsbaum etwa würde man das Buch nur ziemlich kranken Leuten legen wollen – uns professionellen Literaturkritikern zum Beispiel." Für den Deutschen Buchpreis, der Bestseller produzieren soll, wäre Indigo somit eine riskante Wahl gewesen, aber auch ein Signal. Beides ist ausgeblieben, aber Clemens Setz wird sich dadurch wohl nicht entmutigen lassen.