Erstellt am: 5. 10. 2012 - 12:12 Uhr
Hellas stürzt in eine humanitäre Krise
Die medizinische Versorgung in Griechenland bricht zusammen, weil den Krankenkassen und Versicherern das Geld für Medikamente und Gesundheitsleistungen fehlt.
Immer weniger Griechen haben Zugang zur kostenlosen Gesundheitsversorgung, unter ihnen vor allem Kinder und Erwachsene, die an seltenen Krankheiten leiden oder auf teure Medikamente angewiesen sind.
Schon im Juni hat die Ärztekammer in Athen an die UNO appelliert und die Europäer aufgerufen, die Lage in Griechenland ernst zu nehmen: Tausende von Patienten befänden sich in einer dramatischen Lage, weil sie wegen des Zahlungsstopps der Krankenkassen an die Pharmalieferanten und Apotheker von den Krankenhäusern nicht die nötigen Medikamente erhielten. Wenn nicht bald etwas geschehe, werde man Menschenleben zu beklagen haben, so die Ärzte.
Chrissi Wilkens
Auch die griechischen Apotheker-Verbände haben sich im Juni in einem Brief an den Chef der EU-Task Force für Griechenland, den deutschen Finanzexperten Horst Reichenbach, gewandt und dringend um Hilfe gebeten. Das Land brauche mindestens 1,5 Milliarden Euro für Medikamente und medizinisches Material, hieß es in dem Brief.
"Es ist ungerecht, dass bei dem neuen Sparpaket, das zurzeit mit der Troika verhandelt wird, Einschnitte vorgesehen sind, die kranke Menschen und Rentner betreffen", sagt die Vorsitzende des "panhellenischen Verbandes für Patienten mit seltenen Krankheiten", Marianna Lambrou. Sie weist darauf hin, dass ihr Verband immer mehr Mails mit Bitten um Medikamente bekommt. In vielen Krankenhäusern gibt es keine, weil die Pharmakonzerne nicht mehr liefern, und die teuren Medikamente selbst zu kaufen ist zu teuer.
In vielen staatlichen Krankenhäusern fehlt es sogar an Verbandsmaterial und Spritzen, aufwändige und teure Operationen müssen oft verschoben werden. Wegen des Spardrucks kaufen Krankenhäuser inzwischen medizinisches Material in schlechterer Qualität ein.
Ende August haben Ärzte und Apotheker damit begonnen, den Versicherten der größten staatlichen Kasse EOPYY ihre Leistungen persönlich in Rechnung zu stellen. Sie protestierten dagegen, dass sie von EOPYY monatelang kein Geld bekommen haben.
Die Not zwingt zu alternativen Lösungen. In vielen Orten Griechenlands gibt es mittlerweile sogenannte "soziale Ärztepraxen", wo Ärzte und Apotheker ehrenamtlich Menschen, denen es an medizinischer Versorgung fehlt, betreuen.
Haris wartet gemeinsam mit seiner Frau geduldig im Warteraum einer solchen Praxis in Athener Gebiet Elliniko. Beide sind arbeitslos und nicht versichert. Kostenlose medizinische Behandlung für ihr Baby bekommen sie nur hier oder in öffentlichen Krankenhäusern, die aber von der Menge an unversicherten Patienten oft überfordert sind. "Seit dem Ausbruch der Krise gibt es keine Arbeit mehr. Überhaupt versichert zu sein, ist ein Luxus. Gottseidank gibt es diese Arztpraxis, wohin wir unser Baby bringen können", sagt der blasse junge Mann. Hier bekommen die beiden auch Windeln und Milch für ihr Baby.
Immer öfter entdecken Ärzte bei Untersuchungen auch unterernährte Kinder. Und immer mehr Kinder sind übertragbaren Infektionskrankheiten ausgesetzt, weil ihnen die Basisimpfungen fehlen. "Die Eltern sind oft arbeitslos und somit nicht krankenversichert und nicht in der Lage, die Impfungen aus der eigenen Tasche zu zahlen", sagt Toula Zervou, eine Kinderärztin, die in dieser Praxis Kinder ehrenamtlich behandelt. Unter den im Warteraum sitzenden Patienten befindet sich auch ein älterer Herr. "Diese Praxis hat Leben gerettet", erzählt er, während Mairi, die Apothekerin, ihm eine Schachtel Medikamente überreicht.
Chrissi Wilkens
Mairi steht zwischen den Regalen der improvisierten Apotheke der Arztpraxis. Ihr Blick ist besorgt. "90 Prozent der Bevölkerung sind in der EOPYY versichert. Es kommen sogar Menschen zu uns, die versichert sind, aber wegen der Probleme bei der EOPPY einfach nicht versorgt werden."
Die Regierung von Antonis Samaras befolgt treu die Auflagen der Gläubiger, auf dem Gesundheitssektor einzusparen. Beim neuen Sparpaket rechnet man mit Einschnitten von mehr als einer Milliarde Euro. Die Aussage von Mitarbeitern des Gesundheitsministers, dass der Staat nicht alle Unversicherten versorgen könne, empört die junge Apothekerin: "Der Gesundheitsminister glaubt, dass die sozialen Ärztepraxen den Staat ersetzen können."
Die Regierung scheint die Realität nicht wahrzunehmen. In einem Interview mit CNN behauptete Gesundheitsminister Andreas Lykourentzos, er glaubt nicht, dass es einen griechischen Bürger gäbe, der keinen Zugang zu Medikamenten habe. Dem widerspricht Giorgos Vichas, einer der Gründer der sozialen Ärztepraxis in Elliniko, ebenfalls bei CNN. Er befürchtet, dass sogar Menschen sterben werden: "Sie haben kein Recht auf Behandlung, kein Recht auf eine ärztliche Untersuchung. Leider, wenn diese Politik weitergeführt wird, werden nicht hunderte von Menschen sondern Tausende ihr Leben verlieren", so Vichas.
Die soziale Arztpraxis in Elliniko wurde vorigen Dezember eröffnet. Zurzeit gibt es dort 200 Ärzte, Apotheker und freiwillige Helfer. Die Praxis ist Werkstags und Samstag offen und behandelt bis zu 70 Menschen täglich. Die Medikamente sowie das übrige Material kommen durch Spenden von Privatpersonen oder von Organisationen. Die Gemeinde deckt die Betriebskosten. In dieser Ärzepraxis können sich sogar krebskranke Patienten Medikamente besorgen.
"Diese Initiativen sind sehr wichtig. Alleine die Tatsache, dass der Patient sich auf dem Weg macht, dort Medikamente zu suchen, bedeutet für ihn neue Hoffnung. Besonders wenn er weiß, dass er es sich nicht leisten kann, das Medikament in der Apotheke zu kaufen", sagt Zoi Grammatoglou, die Präsidentin des Vereins für Krebskranke im Athen.
Unter den ehrenamtlichen Mitarbeitern der Ärtzenpraxis befindet sich auch Christina Kollia, eine 50-jährige Schriftstellerin. Sie ist verantwortlich für die Kommunikationsgruppe der Praxis. Mit einem warmen Lächeln beobachtet sie die Patienten und Ärzte und erzählt, was sie in diesen Räumen zusammen mit den anderen Kollegen erlebt hat: "Wir sind alle davon überzeugt, dass wir ohne Solidarität nicht überleben können. Dies wurde durch die Krise klar. Vor ein paar Jahren herrschte eine andere Logik, wir waren voneinander isoliert. Für mich sind Humanismus und Solidarität die grundlegenden und dominanten Werte, mit denen wir die Krise am besten und vielleicht auch schneller überwinden können."
FM4 Jugendzimmer aus Athen : Perspektiven aus der Krise
Jeder zweite Jugendliche ist in Griechenland arbeitslos. Hungernde SchülerInnen erhalten Essensmarken. Die soziale Lage in Griechenland ist mehr als angespannt. Letzte Woche kam es zum Generalstreik. Die Troika, somit letztlich auch Vertreter der EU-Bevölkerung, sowie die nationale Regierung wollen der griechischen Bevölkerung noch mehr äußerst umstrittene Belastungen aufhalsen: von sechs-Tage-Wochen und Sonderwirtschaftszonen mit 400 Euro Monatslöhnen ist die Rede. Wie kämpfen sich junge GriechInnen durch die Krise? Was schlagen sie als Ausweg vor?
Claus Pirschner hat sich live aus Athen gemeldet und im FM4 Jugendzimmer (5.10.) mit folgenden Gästen und AnruferInnen diskutiert: Fenia Chala, eine junge Journalistin; Sotiris Papanikolaou, Student; Christos Theodorogianis, Physikabsolvent, der nun mit schlecht bezahlten Gelegenheitsjobs durchkommt, Programmierer beim kritischen Filmclub an der Athener Uni; Christos Sideris, Gründer der ersten von nun immer mehr werdenden sozialen Kliniken, wo ÄrztInnen, ApothekerInnen und andere Freiwillige kranken Menschen helfen, die vom derzeit zusammenbrechenden öffentlichen Gesundheitssystem nicht mehr versorgt werden.
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