Erstellt am: 3. 10. 2012 - 11:59 Uhr
Das Leben ist doch keine Oper!
Gestern musste ich meine liebe M. zum Flughafen begleiten. Sie flog zurück nach Bulgarien. M. wie "Madama Butterfly". Nur sind die Rollen vertauscht: Madama Butterfly, die warten soll, bin ich und sie fährt weg, so wie Leutnant Pinkerton. Ich sehe ihrem Rücken nach, der langsam im Neonlicht des Wiener Flughafens verschwindet. Ab und zu dreht sie sich um und lächelt mich an. Dieses Lächeln soll mein Herz in den nächsten Monaten wärmen und mir Kraft zum Warten geben. Ich bin Madama Butterfly inWien.
Später, am Abend, fahre ich mit meinem klapprigen Fahrrad über den Ring. In der Oper läuft gerade "Madama Butterfly". Wegen dieses Zufalls entscheide ich mich, in die Oper zu gehen. Manchmal kaufe ich mir eine Stehplatzkarte für die Galerie. Die Möglichkeit, Opern für so wenig Geld zu sehen lässt mir auch die Freiheit, die Oper jederzeit zu verlassen. Ich habe irgendwo gelesen, dass es manche "Opernliebhaber" in Paris fast genauso machen: Sie hören sich die Ouvertüre an, dann gehen sie etwas essen und kommen erst für den letzten Applaus wieder zurück.
Ich schaue mir die Logen an. In Loge Nummer Drei saß vor vielen, vielen Jahren der zukünftige bulgarische Zar Ferdinand, der Ende des 19. Jahrhunderts von einer Delegation aus Bulgarien, die unter dem österreichischen Adel den zukünftigen bulgarischen Monarchen aussuchen wollte, bemerkt worden ist. "Sogar in seinen Stiefeln sieht er wie ein Zar aus!", soll einer der bulgarischen Gesandten gesagt haben.
gemeinfrei
Nach der Oper fahre ich am prächtigen Palais Coburg vorbei, das sich unweit von der Oper befindet. Hier wurde Ferdinand Anfang 1861 geboren. Nach mehr als dreißig Jahren an der bulgarischen Spitze, begann er Bulgarien sein Heimatland zu nennen. Im kollektiven Gedächtnis der Bulgaren blieb Ferdinand von Sachsen-Coburg Gotha aber der Monarch, der das Land in zwei nationale Katastrophen, nämlich den Balkankrieg und den Ersten Weltkrieg, geführt hat.
Solche Gedanken gehen mir durch den Kopf, als ich am Palais Coburg vorbei komme. Ich überfahre dabei fast einen Fußgänger. Er beschimpft mich prächtig. Zar Ferdinand war auch als begeisterter Radfahrer bekannt. Er fuhr sogar in den Hallen seines Palastes in Sofia Rad. Ihn beschimpfte aber niemand.
Zunächst von den meisten als weich bezeichnet, wird Ferdinand in den ersten zwei Jahrzehnten seiner Regierungszeit die starke Figur in der bulgarischen Politik. Den Höhepunkt seines Zarentums erreicht er 1908, als er die Annexion von Bosnien durch Österreich-Ungarn ausnutzt und die endgültige Unabhängigkeit Bulgariens vom Osmanischen Reich verkündet.
Als ich zu Hause ankomme, ist es schon der dritte Oktober. An diesem Tag im Jahr 1918 dankt Ferdinand ab und verlässt Bulgarien für immer. Und ich fühle mich schlecht, da mir M. fehlt. Es ist nicht leicht, Madama Butterfly zu sein. Aber was soll's, ich mache kein Seppuku. Das Leben ist doch keine Oper.