Erstellt am: 29. 9. 2012 - 15:07 Uhr
Verdichtetes Menschheitslaboratorium
"Die Schule ist ein grausamer Ort, eine riesige Fiktion, der das Individuum sich unterordnen muss", sagt die 32-jährige Katharina Tiwald. Sie muss es ja wissen, schließlich unterrichtet sie selbst. Aus Beobachtungen, die sie als Hauptschullehrerin täglich in der Schule macht, hat sich ihr Roman zusammengebraut. Der Stein des Anstoßes: "Ein Kollege aus dem Nordburgenland hat mir vor einiger Zeit erzählt, dass in einem Jahr alleine im Nordburgenland drei Schüler Selbstmord begangen haben. Das käme schon sehr oft vor."
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Und so handelt auch ihr Schulroman traditionell wie die großen Vorgänger Torberg, Hesse und Musil vom Scheitern an der Selbstfindung, am Selbst. Diesmal ist es zur Abwechslung eine weibliche Protagonistin, ein namenlos bleibendes Mädchen G., das wir beim Aufwachsen, beim Werdegang beobachten: Vom Schuleintritt bis zum tragisch frühen Lebensaustritt. Der Grund für die weibliche Hauptfigur waren durchaus auch Gender-Fragen, aber weiters der Wunsch, eine bestimmte Dreiecksbeziehung mit Zugzwang darzustellen - im Buch der Auslöser für die Selbstauslöschung. Außerdem das Gefühl, Tiwald könne "das Innenleben von Buben vielleicht nicht zur Gänze ausfüllen. Männer vielleicht schon, aber Buben - ich weiß nicht."
Neologismen-Lust
"Es gibt viel zu verdauen. Die Kreide hinterlässt ihre Spuren an der Tafel, den Kreidestaub gilt es zu verdauen. Zu jeder Stunde kommt aus einem neuen Lehrermund der Kopf einer Wortschlange, Bauch und Schwanz. Sie gilt es zu verdauen. Das Tempo, das Wissen, alles muss erst einverleibt werden, angekörpert, einwickeln müssen sich die Kinderkörper in Tempo und Wissen."
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Angekörpert, Rededreh, Bluthalbdunkel: Katharina Tiwald spinnt aus einer unbändigen Lust für Wortschöpfungen ein sprachgewaltiges, wortgewalttätiges Heer. Das kommt nicht von irgendwo, denn: Die Schule ist eine militärische Einrichtung, eine mariatheresianische Anstalt, die den Menschen durch Gewalt zwingt, sich in die Welt einzuordnen.
"Das kann man auch so vergleichen: Ich hatte neulich eine komplizierte Zahnoperation, bei der der Zahnarzt hinter mir gestanden ist und in ein Mikroskop geschaut hat, das über meinem Mund hing. Darüber hat er dann mit winzig kleinen Feilen in meinen Wurzelkanälen herumgfeilt." So sei das auch mit dem Schreiben, dem gewaltsamen Eindringen, der schmerzhaften Operation an jedem einzelnen Wort, jedem Satz. "Es ist nicht genug, einfach irgendwie eine Geschichte zu erzählen, damit sie erzählt ist." Da müsse man sprachlich ganz genau sein.
Katharina Tiwald ist Hauptschullehrerin und Lektorin am Institut für Slawistik an der Uni Wien und hat bereits Erzählbände und Theaterstücke veröffentlicht. 2009 und 2010 erhielt sie das Staatstipendium für Literatur.
Katharina Tiwald meint, dass sich Menschen zwischen 10 und 17 Jahren in einem "verdichteten Menschheitslaboratorium" befinden: "Die leben alles, was Leben sein kann, zusammengepresst zu einer irren Intensität." So intensiv erleben wir auch die Jugend der Hauptfigur G. in Tiwalds Buch, in einem Zeitraffer, alles Relevante aneinandergereiht zu einem exemplarischen Lebenslauf. Erster Schultag, Kindergeburtstag, Mathe-Schularbeit, Demütigungen von Komparsen-Klassenkollegen, Chillen im Park, gescheiterte Freundschaftsversuche, der erste Kuss, das erste Mal. Keine Pausen, keine Ersatzhandlungen, die Zwischenräume herausgeschnitten, keine Zeit für den Leser, sich zwischen den Zeilen auszuruhen.
Diese Tatsache macht neben der überwältigenden Sprache den Reiz von "Die Wahrheit ist ein Heer" aus. Der Roman wirft einen messerscharf-genauen Blick auf bürgerliches Aufwachsen und Selbstfindung und ist in seiner Analyse teilweise so erbarmungslos wie die Schule selbst. Eine klare Sicht auf die Zeit der Pubertät und Selbstfindung ohne "Graduation Goggles", ohne rückwirkendem Weichzeichner - aber mit viel Einfühlungsvermögen. Der Arbeitstitel des Buches könnte passender nicht sein: "Pflichtlektüre".