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Christian Fuchs

Twilight Zone: Film- und Musiknotizen aus den eher schummrigen Gebieten des
Pop.

26. 9. 2012 - 12:29

Ich hab mich heute verletzt

"The Downward Spiral" von Nine Inch Nails ist das erste Album in der neuen Reihe "House of Pain Classics". Erinnerungen an ein fernes Interview.

1994, ein Jahr bevor das erste House of Pain auf Sendung geht, erscheint das Schlüsselalbum einer Band, die viele weitere Mittwochabende auf FM4 prägen wird. "The Downward Spiral" verschafft dem Bandprojekt Nine Inch Nails den breitenwirksamen Durchbruch, spaltet die Kritiker seinerzeit aber in Fraktionen.

"House of Pain Classics" ist eine neue und unregelmäßige Reihe: "The Downward Spiral" von NIN macht den Anfang, zu hören am 26.09. ab 22 Uhr auf FM4.

Für die einen ist Mastermind Trent Reznor ein musikalischer Autist, der auf futuristische Weise Elektronik, metallische Gitarren und Ohrwurmmelodien verknüpft. Nine Inch Nails, schwärmt die Zeitschrift "Spin" anlässlich des Albums, sind eine Band für das Jahr 2094, nicht 1994.

Seine Gegner belächeln Reznor als einen in Bombast und theatralische Inszenierungen verliebten Gockel des Industrial-Rock. Von einem Düster-Guru für gelangweilte MTV-Kids ist ebenfalls die Rede, der hemmungslos die Radikalität von Acts wie Foetus oder Coil in Zuckerwatte für Augen und Ohren verwandelt. Die eigenen Bandmitglieder, verkünden Augenzeugen in dieser Ära, schicke Reznor zum Imageberater, lasse sie umstylen und frisieren, die Bühnenshow sei gruftiges Kasperltheather.

Nach einem denkwürdigen Konzert in der Wiener Arena, einem längerem Interview mit Mr. Reznor und vor allem auch einer unvergesslichen Ausgehnacht mit der ganzen Band, stelle ich damals fest: die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen.

Nine Inch Nails

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Die weite Welt da draußen

Seine Karriere, so uramerikanisch wie jene von Steven Spielberg, Elvis und Charles Manson zugleich, entspringt der tiefsten Provinzhölle, betont der schüchtern und kultiviert wirkende Trent Reznor. Geboren und aufgewachsen in Smalltown USA, einem Kaff irgendwo in Pennsylvania, in einer Zeit vor dem Internet, dass die globale Vernetzung von exzentrischen jungen Menschen erst ermöglicht.

"Ich denke, manche Leute glauben fälschlicherweise, dass jede Art von interessanter Kunst nur in Großstädten entstehen kann. Auf meinen Reisen habe ich aber festgestellt, dass irgendwo im letzten Nest mehr bizarre Leute leben, als inmitten von New York. Obwohl es im Grunde gar nicht vom Ort abhängt. Aber wenn man irgendwo isoliert lebt, ohne Kontakt nach draußen, stagniert man entweder, wie alle anderen, oder man will genau diesem Schicksal entfliehen. Ich wollte immer abhauen aus meiner Isolation. Ich passte nicht dorthin. Man konnte dort nur mit Blödsinnigkeiten Beliebtheit erlangen, zum Beispiel wenn du ein super-athletischer Typ warst. Schwachsinn. Da war eine Welt im Fernsehen, die mich fesselte und ich entdeckte Sachen durch Musik, Lesen, Filme".

Es ist die mittlerweile fast schon zu oft erzählte Geschichte eines Schulhof-Außenseiters, dem Sonderling, der aus dem Provinzkaff flüchtet. Lange bevor Begriffe wie Geek in aller Munde sind, bricht der troubled boy Reznor einen Job als Computerprogrammierer ab und nimmt erste Demos auf. Seine Musik speist sich aus Ängsten und Second Hand-Fantasien. Einem Independentplattenvertrag folgt ein erstes Album - "Pretty Hate Machine". Agressiver Synthiepop mit allzuglatten Oberflächen, der aber einen Nerv zu treffen scheint und Reznor sein erstes Platinalbum beschert.

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Ein Grammy für den Hass

Nächste Station: ein Minialbum mit dem Titel "Broken". Der klinische Elektropop bekommt tiefsitzende Schrammen in Form von rostigen Gitarren verpasst. Eine parallel erscheinende EP namens "Fixed" zerstört die Songs noch mehr, bis hin zu lärmenden Fragmenten. Trent Reznor grinst in meiner Erinnerung, als er von dem Erfolg dieser Platte schwärmt.

"Zur Zeit von 'Broken' war ich sehr frustriert. Schwierigkeiten mit meinem damaligen Plattenlabel, der plötzliche Erfolg ließ mich ausflippen, eine schwere persönliche Krise kam auch noch dazu. Ich verschmolz das alles zu dieser kleinen EP voller Hass. Durch die Touren mit der Liveband begann ich Geschmack an Gitarren zu finden und an echten Drums. Drums waren bisher für mich nur ein Knopf an einer Maschine gewesen. Ich hatte auch den Drang den kommerziellen Erfolg von Nine Inch Nails zu ruinieren und machte also diese Platte. Und dann gewann mein Song 'Wish' den Grammy für den 'Besten Hard Rock Song'. Es war der erste Grammy-Song, der das Wort Fistfuck enthält."

Schritt für Schritt nähert sich der blasse Shootingstar der Arbeit an dem Album, dass die Geschichte der Alternative Music ebenso verändern wird wie Werke von Nirvana, Smashing Pumpkins oder Soundgarden.

"Plötzlich befand ich mich in ein Eck gedrängt. Ich hatte nie die Ambition in der härtesten, gemeinsten, verzerrtesten Band der Welt zu sein. Also begann ich bei 'The Downward Spiral' wieder mehr mit Computern zu arbeiten als mit Gitarren. Ich wollte etwas schaffen, das in zehn verschiedene Richtungen geht und doch zusammenpasst. Ich wollte Spannung durch Zurückhaltung statt durch Lautstärke und Agression erzeugen."

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Angst vor Menschen und Suche nach Respekt

"The Downward Spiral" überzeugt auch Skeptiker wie den Schreiber dieser Zeilen, der damals zwischen Noiserock, Post-Grunge, Trip-Hop-Anfängen und der Electronica-Welle herumsurft. Das Album brilliert mit schönen Widersprüchen: Einerseits kriechen an allen Ecken und Enden Harmonien und Melodien heraus. Andererseits liegt ein ununterbrochener Schleier aus Noise und Geräuschen darüber, der die Hitqualitäten sabotiert.

"The Downward Spiral" - die Tracklist:

  • Mr Self Destruct
  • Piggy
  • Heresy
  • March of the Pigs
  • Closer
  • Ruiner
  • The Becoming
  • I Do Not Want This
  • Big Man With a Gun
  • A Warm Place
  • Eraser
  • Reptile
  • The Downward Spiral
  • Hurt

"Vieles auf dieser Platte, das echt klingt, ist es nicht und umgekehrt. Ich wollte, dass sich die Elektronik lebendig anhört, anstatt die Sampler und Synthesizer kalt klingen zu lassen, denn das ist ja leicht. Es ging nicht darum, Naturinstrumente nachzuahmen, aber lebendige Sounds wollte ich haben. Wir sampelten auch viele organische Dinge für die Melodien, wie etwa Bienenschwärme. Alles war sehr durchdacht."

Wenn Reznor in diesem Interview "wir" sagt, meint er, neben sich selbst, eine winzige Gruppe von ausgesuchten Gastmusikern und Freunden. Flood, Adrian Sherwood, Coil und Adrian Belew, Gitarrenlegende of David Bowie-Fame.

"Ich habe einfach Angst vor Menschen, also vermeide ich ihren Kontakt. Jetzt ist es nicht mehr ganz so schlimm. Als ich mit Adrian arbeitete, einem meiner Gitarrenhelden, merkte ich, dass er ein cooler Typ war und wir respektierten uns gegenseitig. Dann triffst du jemanden wie Prince und er ist ein kleiner verschrumpelter Freak, der in einer anderen Welt lebt. Der hat keinen Hauch Menschlichkeit mehr, mit so etwas möchte ich nicht verkehren."

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Das Kind im Horrorhaus

Aufgenommen wurde "The Downward Spiral" in jenem Haus, in dem anno 1969 die Schauspielerin Sharon Tate mit ihren Freunden brutalst ermordet wurde. Die Täter schrieben als Manson-Family Kriminalgeschichte. Ein perfide perfekter Ort für Reznor um seine Splatterphantasien auszuleben, schimpfen Kritiker. Aber der Meastro dementiert im Backstageraum in der Wiener Arena.

"Wir suchten ein Haus, wo wir ein Studio einrichten konnten. In Los Angeles haben wir uns 15 Häuser angeschaut und eines war das Tate-Haus, was uns aber niemand erzählte. Spektakulär an dem Haus war, dass es mitten in L.A auf einem Hügel lag, sehr isoliert also, und eine perfekte Location für uns. Später, an diesem Tag, fanden wir heraus das es sich um dieses Haus handelte. Die Sache wurde dadurch etwas mulmig, aber wir hatten uns bereits entschlossen, dass es das beste von allen Häusern war. Ich bin froh, dass wir dort waren, weil es ein interessantes Stück Geschichte ist. Das Haus war seit damals fast unverändert."

Ihrem poppig-sinistren Industrialsound bleibt die Band, inklusive etlicher Mutationen und Veränderungen, bis zu ihrem vorläufigen Ende 2009 treu. "The Downward Spiral" beeinflusst unzählige Bands, schafft es via dem Soundtrack von David Finchers "Se7en" auf die Leinwand, macht Typen wie Marilyn Manson erst möglich und wird durch Johnny Cashs "Hurt" Cover endgültig legendär.

Subtiler als die NIN-Songs davor ist die Musik auf "The Downward Spiral" geworden. Aus den Texten spricht noch immer der Landjunge, der sein Außenseitertum mit Gewaltphantasien kompensiert.

"Stimmt schon, es ist sehr extrem und over the top, wie das Pendant zu einem Film, in dem 500 Leuten die Gedärme herausgerissen werden. Es ist so beabsichtigt. Ich mag vielleicht in musikalischen Bereichen subtiler geworden sein auf dieser Platte, aber sicher nicht textlich."

Der Schlüssel zu den postpubertären Textfluten: Reznor gesteht, dass er ein ewiges Kind geblieben ist, mit allem infantilen Narzismus und Zerstörungsdrang. Die monströse Bühne ist sein Abenteuerspielplatz, wo er sich austoben und viele teure Spielsachen kaputt machen kann.

Nine Inch Nails

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Als Gott MTV noch diktierte

Der Mainstream, der Mitte der Neunziger besonders unersättlich auf der Suche nach vermarktbaren Ideen ist, erlaubt es plötzlich verschrobenen Sonderlingen Stars zu werden. Siehe Typen wie Beck, Shirley Manson oder auch die Hollywoodkarriere eines Tim Burton.

"Die meiste Musik da draußen ist im Moment sehr langweilig. Der Geist des Rock’n’Roll ist tot, alles ist schön verpackt und leblos und wird via MTV ins Haus gebracht. Wenn der Gott von MTV, wer auch immer das ist, sagt - du bist das nächste große Ding, dann bist du das nächste große Ding. Sie diktieren die Mode. Videos sind heutzutage ein notwendiges Übel bei der Vermarktung einer Platte. Ich versuchte darin eine Herausforderung zu sehen - wie kann ich ein wirklich interessantes Video drehen?"

Der Konsumkritiker Reznor, der vor Videoclips warnt - das ist für mich bei dieser Begegnung die seltsamste Facette einer Person, die viele als pures MTV-Kunstprodukt sehen. Aber Gegensätze sind genau der Zugang zu seiner Persönlichkeit.

"Beim neuen Video zu 'March of the Pigs' sagte ich: Fuck, gehen wir in den Proberaum, spielen wir den Song, eine Kameraeinstellung, keine Schnitte. Wir spielten das Stück 15 Mal und nahmen die am wenigsten dämliche Version. Ich machte das als Kommentar zu MTV und es ist mein Lieblingsvideo geworden."

Der Ex-Todespopper und mittlerweile Oscar-Preisträger Trent Reznor heiratete 2009 seine Frau Mariqueen Maandig, mit der er auch das Musikprojekt How To Destroy Angels betreibt. Ihr gemeinsamer Sohn Lazarus kam 2010 auf die Welt.

Hier werden nicht neue Underground-Ideen verhandelt, sondern es geht um Pop, notiere ich mir damals. Pop im Sinne von: Abgehoben, artifiziell, größenwahnsinnig, exaltiert. David Bowie als Ziggy Stardust, Alice Cooper, Soft Cell, frühe Kiss. Pop mit Tonnen von Make Up, Nebel und falschem Bühnenzauber im Gepäck, aber auch jeder Menge Neurosen. Trent Reznor ist kein Humanist wie Bono, halte ich seinerzeit als Fazit fest, sein Weltbild besteht aus Verwesung und Verfall. Nie hat Todespop besser geklungen als auf "The Downward Spiral".

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