Erstellt am: 26. 9. 2012 - 16:44 Uhr
Neues vom Raubgesindel
Es gibt mittlerweile einen ganzen Haufen von Leuten, allesamt keine herzlosen Sozialdarwinisten, denen Jean Ziegler und sein sich hochfrequent wiederholender Sermon ziemlich auf die Nerven geht.
Und natürlich bietet der Mann auch einige Angriffspunkte - so verteidigt er mit Inbrunst die ehemalige Gallionsfigur der Linken, Ernesto Che Guevara, oder generell den kubanischen Weg. Ebenso hatte er nicht immer ein glückliches Händchen, was die Wahl der Politiker betrifft, die er mit Lob überhäufte, wie etwa Zimbabwes Mugabe oder eben auch Libyens Gaddafi - aber mit letzterem hat ja sogar der deutsche Außenminister nur Monate vor dem Bürgerkrieg auf Fotos posiert.
APA / Herbert Neubauer
Doch so wie Che hat auch Jean Ziegler eine gewisse Bedeutung in (vor allem europäischen) intellektuellen und akademischen Kreisen, er ist ein bisschen der Liebling derer, die alles "total arg" finden, aber selten über nächtelange Diskussionen oder Online-Foren hinauskommen. Mit einem Jean Ziegler Buch in der Hand kann man zu den "Guten" gehören, die sich inbrünstig von den "Bösen" abgrenzen (Banken, Raubgesindel, Konzerne oder generell: Geldsäcke) - so wie ja auch Che Guevara vor allem ein beliebtes Vorbild (für ein Fantasieleben) von bürgerlichen Städtern aus den Wohlstandsgesellschaften war.
Wenn man an Jean Ziegler denkt, oder etwa Foren durchforstet, ist man schnell beim "Nicht schon wieder!" Zu missionarisch, zu monothematisch oder vielleicht auch zu naiv scheint vielen Zieglers Weltsicht, wo böse Konzerne des bösen Westens zusammen mit Banken und Organisationen wie dem IWF alleine verantwortlich für Leid und Hunger in der Dritten Welt sind.
"Was ist denn mit der Überbevölkerung", oder "Die korrupten, afrikanischen Regierungen sind doch mit schuld" sind Stellungnahmen, die einem oft begegnen, wenn man die Rezeption von Zieglers Schaffen beobachtet.
Dabei vergisst man oft, welche Funktion und Aufgabe Jean Ziegler hat.
C. Bertelsmann
Ziegler - und insofern ist sein neuestes Buch "Wir lassen sie verhungern" gut gelungen - ist Berichterstatter, einer der mit den Instrumenten von Erhöhung und Polemik arbeitet. Sogar seine offizielle Bezeichnung lautete ja "UN Sonderberichterstatter auf das Recht auf Nahrung". Und genau hier ist Ziegler auch zu verorten, in seiner angestammten Aufgabe seiner Empörung Luft zu machen.
Seiner Empörung über den Umstand, dass, wie Ziegler nicht müde wird zu betonen, "alle fünf Sekunden ein Kind stirbt". Und den Umstand, dass dies nicht nötig wäre.
Die Vorstellung, dass während wir hier sitzen, Menschen an Hunger sterben, Mütter Steine kochen, damit ihre Kinder aufhören zu schreien, die ist unerträglich. So unerträglich, dass man vielleicht dazu neigt, den Boten nicht ernst zu nehmen.
Doch abgesehen von seiner Sozialismus-Nostalgie und der Fidel-Folklore ist Ziegler immer dann am stärksten, wenn er beobachtet. Beschreibt was Hunger in dieser Welt anrichtet. Einer Welt, die hier im Westen zumeist vergessen hat, wie sich Hunger anfühlt, all dies unter die Nase zu reiben.
Wir sollen nicht vergessen, wie elend Menschen an Hunger und seinen Folgen sterben müssen, während wir das nächste Mal verschämt wegschalten, wenn ein "Nachbar In Not" Spot im Fernsehen läuft. Ziegler hat selbst oft gesehen, wie vor allem Kinder durch Mangelernährung etwa Opfer der "Noma" werden (eine Krankheit, wo von der Mundhöhle ausgehend langsam das Gesicht zerfressen wird und die Betroffenen zumeist aus Scham versteckt werden und sterben) - und deshalb schreibt er darüber.
Es gibt bestimmt berufenere Kritiker, um auf all die tatsächlichen Probleme und Unfassbarkeiten mit Playern wie den USA, der EU, den Fortune 500, den großen Banken, IWF, WTO und Weltbank, und generell auf Kapitalismus (oder wie man unsere aktuelles Wirtschaftssystem auch nennen mag) und Verteilungsgerechtigkeit einzugehen.
Jean Zieglers Rolle ist uns weiterhin daran zu erinnern, dass selbst das grundlegendste Menschenrecht - nämlich zu überleben - für Teile der Weltbevölkerung täglich gefährdet ist.
Vor allem in einer Zeit, in der die entwickelte Welt so besorgt um ihren eigenen Abstieg ist, dass selbst beschämend geringe Entwicklungshilfen immer weiter gekürzt werden. Insofern hätte er momentan kein wichtigeres Buch als "Wir lassen sie verhungern" schreiben können.
APA / Helmut Fohringer
Und insofern bleibt es natürlich auch lächerlich, bei aller Lächerlichkeit die Jean Ziegler in der politisch-ökonomischen Analyse selbst anbietet, das lächerlich zu finden.
Interview mit Jean Ziegler
Politik und Gesellschaft auf FM4
Herr Ziegler, sie sprechen oft von der Doktrin des neoliberalen Finanzkapitals (wobei man bezweifeln kann, ob dieser Begriff korrekt ist, Anm.). Von dieser Doktrin seien alle abhängig - also auch Sozialisten. So sitzt ein französischer Sozialist an der Spitze der WTO, und die Salzburger Landeshauptfrau Burgstaller, die sie ja von den Festspielen auslud, ist eine Sozialdemokratin. Welche Möglichkeit hat man als Bürger Europas überhaupt politischen Willen zur Veränderung mit Wählen auszudrücken?
JZ: Die Sozialdemokratie, ich will nicht von Österreich reden, da ist noch Leben drin (sic!), aber in Frankreich oder Deutschland ist total infiziert von der neoliberalen Wahnidee. Denken Sie an die Regierung Schröder oder das neue Programm von Sigmar Gabriel. Das ist ein trüber Wahlverein und keine politische, soziale Kraft mehr, die Welten verändern könnte.
Aber es gibt etwas ganz Neues - das ist die Zivilgesellschaft!
Attac, Greenpeace, die Frauenbewegung, Amnesty, die Occupy Bewegung oder die Via Campesina - da wird diese Bruderschaft der Nacht plötzlich sichtbar.
Zweihunderttausend Menschen in Dakar beim letzten Sozialforum, die acht bis neuntausend neue, soziale Bewegungen vertreten. Und diese sozialen Bewegungen sind klassenübergreifend, sind geschlechtsübergreifend, sind altersklassenübergreifend, vereinigen Menschen aus allen Regionen, Glaubensrichtungen und politischen Lagern, und haben als Motor ausschließlich den moralischen Imperativ. Sie haben kein Parteiprogramm, sondern sie organisieren sich, weil sie sagen, nach Kant, die Unmenschlichkeit, die einem anderen angetan wird, zerstört die Menschlichkeit in mir.
Aber wie können die alle durchhalten? Occupy hat sich in diesem einen Jahr nicht erledigt, aber es ist sehr viel kleiner geworden, wir stehen vor einer Situation, wo vermutlich eine neue Hungerskatastrophe auf uns zukommt, die Banken und das reichste Prozent haben durch die Krise nicht oder kaum verloren, im Gegenteil, die meisten sind in diesen fünf Jahren noch reicher geworden - während der Mittelstand unter Druck kommt, auch in Europa, woher sollen all diese kleinen Grassroot-Bewegungen die Hoffnung nehmen weiter zu machen?
JZ: Einerseits ist ihre soziologische Analyse, die sie da machen, einleuchtend, ich meine die Occupy Bewegung ist in Dekadenz jetzt. Aber die anderen Bewegungen, die Via Campesina, die landlose Bauern der Welt Bewegung, mit Sitz in Jakarta, die hat jetzt 141 Millionen Mitglieder. Die Movemento Sem Terra in Brasilien, da sind fünf Millionen landlose Bauern unterwegs und organisiert, und besetzen Großgrundbesitz und so weiter. Der revolutionäre Prozess, oder der prärevolutionäre Prozess der Bewusstseinsbildung ist komplex, ist vielfältig, ist kompliziert. Hin und wieder auch regressiv - einige Bewegungen verschwinden, andere explodieren plötzlich und werden mächtig - aber die Zivilgesellschaft als Ganzes erwacht. Che Guevara hat gesagt: "Auch die stärksten Mauern fallen durch Risse."
Dazu kommt, dass der globalisierte Monopol-Kapitalismus ja seine eigenen, objektiven Widersprüche produziert, diese neoliberale Wahnidee glaubt ja kein Mensch mehr heute! Es gibt einfach diese unglaubliche Hoffnung in die Bauernaufstände in der Peripherie, in Indonesien, Honduras, Nord-Brasilien oder Nord-Senegal, von denen kein Mensch in Europa redet. Wir haben ja eine unglaublich eurozentrische Presse. Aber dann gibt es den Aufstand des Gewissens - der kommt, in Europa, also in den Herrschaftsländern.
Liegt eine Veränderung in Europa, so ein "Aufstand" wie sie sagen, vielleicht auch daran, dass - wie Sie oder auch Noam Chomsky oft sagen - dieser Sozialdarwinismus sich jetzt auch gegen die Menschen des Westens selbst richtet?
JZ: Absolut, der Dschungel schreitet nach Europa vor. Europa mit 420 Millionen Produzenten und Konsumenten ist ja potenziell die größte Wirtschaftsmacht der Welt und wird jetzt vom neoliberalen Wahnsinn geschlagen. Im Mai war ich in Madrid, da kam der UNICEF Bericht heraus, über die Lage der Kinder in Spanien. In diesen UNO-Spezialorganisationen sind ja weiß Gott keine Revolutionäre, aber in diesem Bericht steht, dass 2,2 Millionen Kinder unter zehn Jahren in Spanien schwer und permanent unterernährt sind. Es gibt ähnliche Zahlen aus England, wo vom Guardian befragt 55 Prozent der Lehrer an öffentlichen Pflichtschulen Nahrungsmittel mit an die Schule bringen. Damit die Kinder, die Zuhause kein Frühstück bekommen, wenigstens in der Schule essen können. Der Dschungel schreitet vor, 31 Millionen Sockel-Arbeitslose - das ist der fürchterliche Ausdruck von Frau Merkel - also 31 Millionen permanent Vollarbeitslose gibt es in den 27 EU-Ländern, darunter 42 Prozent junge Menschen unter 28, die also nie in den Arbeitsprozess eingetreten sind. Das führt dann doch zur Bewusstseinsbildung.
Man könnte ja aber auch sagen, dass es oft gar keinen Markt gibt und so viele Vorwürfe ins Leere gehen. Sind so Institutionen wie der IWF oder die Weltbank nicht per se planwirtschaftliche Konstruktionen? So gesehen wären all die Probleme ja eigentlich schon die Schuld von Menschen, konkret Politikern und nicht des Marktes? Aber sie sprechen schon von Marktversagen im eigentlichen Sinn?
JZ: Dieser Einwand ist nicht berechtigt, weil IWF, WTO und Weltbank haben eine Funktion im organisierten Raubtierkapitalismus, und das ist die Entwaffnung der Länder des Südens. Also denen die Schutzzölle weg zu nehmen, die Liberalisierung zu forcieren und mit wirtschaftlicher Gewalt und Erpressung Privatisierungen durch zu drücken, um dann für die Konzerne die Rohstoffe und Arbeitskraft dieser Länder nutzbar zu machen. Die Weltbank ist übrigens eine öffentliche Bank, der IWF und die WTO werden auch politisch gelenkt - wir können also den österreichischen Finanz- oder Wirtschaftsminister zwingen für die sterbenden und hungernden Kinder zu stimmen und nicht mehr für die Ultra-Liberalisierung die derzeit erzwungen wird.