Erstellt am: 25. 9. 2012 - 11:23 Uhr
Das Monster Liebe
"Aber das Ende?!" - "Das ist Haneke."
(Erste Reaktionen eines Pärchens im Publikum, als der Abspann von "Liebe" auslief.)
In Cannes erhielt Michael Haneke diesen Mai die Goldene Palme für "Liebe".
Zu Beginn dringen Feuerwehr und Polizei gewaltsam in eine Altbauwohnung ein. Die Türrahmen sind mit Klebeband abgedichtet, die Leiche einer alten Frau liegt aufgebahrt mit eingefallenem Gesicht und rund um ihr Haupt verstreuten Blumenköpfen auf dem Bett. Die Kamera blickt in der ersten Einstellung von innen auf den Hausflur nach draußen. Als Zuschauer ist man schon drinnen, und wird diese Wohnung bis auf einen Konzertbesuch für die gesamte Spielzeit nicht verlassen. Georg (Jean-Louis Trintignant kehrte mit 81 Jahren für Haneke noch einmal an ein Filmset zurück) und Anne (die 85jährige Schauspielerin Emmanuelle Riva), ein altes Ehepaar, schlurfen in schweren Schritten durch ihre Pariser Wohnung. Auf ihr Tempo muss man sich einstellen, das erfordert Geduld. Meister Haneke zwingt einen als Zuschauer zu Disziplin. Diese Langsamkeit, die ist gewöhnungsbedürftig.
If breathing was easy
X-Verleih
Die Klavierprofessorin Anne erleidet einen Schlaganfall, dann vielleicht noch einen. Zurück zuhause bei ihrem Mann, rechtsseitig gelähmt und im Rollstuhl, ringt sie ihm ein Versprechen ab: "Bring mich nie wieder ins Krankenhaus".
Es gibt diese zwei Jahrzehnte in jedem Leben, in dem Menschen alles zum ersten Mal machen. Und dann kommt eine Zeit, in der man alles zum letzten Mal macht, vielleicht. Mitten in der Nacht sitzt Anne aufrecht und wach im Bett, ihre Augen glänzen feucht. Mehr braucht Haneke nicht, um das Wissen um die eigene Endlichkeit eindringlich zu machen. Diese Endlichkeiten, innigste Verbundenheit und Liebe, aber auch das Scheitern und Unerträgliches zeigt Michael Haneke.
Und das, ohne Pathos zu bemühen. Wenn Anne Georg nach den Fotoalben fragt, und durch die Jahre blättert, beobachtet er sie entsetzt. Anne verwehrt sich dagegen, er solle sie nicht so fixieren: "Es ist schön, das Leben. Das lange Leben". Ständig haben sich die beiden etwas zu erzählen. Stille Wertschätzung und gegenseitiger Respekt versteht sich von selbst.
So sehr sich das Paar liebt, ihre Tochter - gespielt von Isabelle Hupert - blieb außen vor. Der Mutter-Tochter-Konflikt ist längst ausgeprägt. Es gibt Hinweise, was geschehen sein muss: Der Dirigentenehemann betrügt die Frau mit Musikerinnen des Ensembles. "Liebst du ihn denn?", fragt der Vater die Tochter. "Ich denke schon", so die Antwort, auf die keine Erwiderung folgt. Das ist nicht die Art Beziehung, die sich Eltern für ihr Kind wünschen.
Kaum eine Szene ist nicht vorhersehbar. Der kleine Tanz, den Anne mit ihrem neuen, selbst bedienbaren motorisierten Rollstuhl führt und Georg absichtlich eben gerade nicht umfährt. Und dass es mit Tieren in Haneke-Filmen nie lange gut geht, weiß man. Das bedeutet jedoch nicht, dass "Liebe" unspannend wäre oder das Geschehene am Ende nachvollziehbar. Michael Haneke erzählt zwischenmenschliche Unstimmigkeiten mit kleinen Gesten. Hier wird nicht gequatscht, hier regiert die große Kunst Schauspiel. Jeder Blick ist eine kleine Geschichte, und wenn die Kamera endlich zur anderen Hälfte des Wohnzimmers schwenkt, füllt ein Klavier den Raum und enthüllt, warum Anne dieses Zimmer liebt.
Wunderbar sorgfältig sind Ausstattung und Kostüm, die mit jedem Detail mehr über das alte Ehepaar preisgeben. Am frühen Morgen sitzen die beiden in ihren Pyjamas gemeinsam am Küchentisch, er mit übergezogener Strickjacke und sie trägt bereits den Ehering, noch vor dem Besuch im Bad. Die Räume sind voll mit Möbeln, Bildern, Büchern und Dingen, doch alles ist aufgeräumt an seinem Platz. Da hat jemand gelebt, aber mit seinem Leben abgeschlossen.
Das Drehbuch zu "Liebe" ist vor wenigen Tagen im Hanser Verlag erschienen.
"Liebe" ist nicht nur rührend. Haneke packt ein Plädoyer für Selbstständigkeit hinein. So lange Anne kann, teilt sie sich Georg mit und behauptet sich: "Ich will nicht mehr. Nicht deinetwegen. Meinetwegen".
Das große Thema Verfall
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Wie in "Die Klavierspielerin" und "Cache" spielt "Amour/Liebe" im gut situierten Bürgertum und ist ein zutiefst europäischer Film. Haneke fokussiert eine zentrale und ungelöste Thematik unserer Gesellschaft: Der Verfall und das lange Sterben sind in unserem System noch nicht vorgesehen, aber Fakt.
Jeder Schluck ist ein Kraftakt, jeder Atemzug Beschwernis für Anne. Man kennt das, von Großeltern oder schwer Kranken oder erinnert sich selbst an das Gefühl, aber man hat es verdrängt.
Im Krankenhaus behält man Anne nicht. Eine junge Pflegehilfe mit osteuropäischen Akzent kämmt sie grob und hält ihr den Spiegel vor das Gesicht. Solle sie sich doch anschauen, wie hübsch sie nun sei.
Die Überforderung und den Leidensdruck des pflegenden Angehörigen übersehen die wenigen Besuche. Anne kann keine Sätze mehr bilden, verweigert die Schnabeltasse, und Georg ohrfeigt sie vor Entsetzen. Den umgestoßenen Nachttopf muss Haneke nicht ins Bild rücken, um klar zu machen, was es heißt, einen geliebten Menschen zu pflegen, der aufgehört hat, so zu existieren wie man ihn kannte. Daran zerbricht Georg.
"Du wirst doch nicht dein Image auf die alten Tage überwerfen!", neckt Anne Georg an einer frühen Stelle im Film. Es ist ein Flirt am seit Jahrzehnten geteilten Küchentisch. "Was ist denn das für ein Image?" - "Du bist ein Monster manchmal, aber du bist nett".
Gedankenexkurs mit Spoiler
"Die medizinische Profession hat mehr Serienmörder hervorgebracht als jede andere Berufsgruppe", schreibt der deutsche Kriminalist Stephan Harbort in einem seiner Bücher. "Die Erfahrung, helfen zu wollen, aber nicht zu können, gerät zum seelischen Bumerang."