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Ali Cem Deniz

Das Alltagsmikroskop

30. 9. 2012 - 10:13

Notizen aus Homs

Der Journalist Jonathan Littel begleitete zwei Wochen lang syrische Rebellen auf Demos, Beerdigungen und im Kampf gegen das syrische Militär.

Illegal und mit heimlicher Hilfe von Rebellen überquerte der französische Journalist Jonathan Littell am 16. Jänner, nur fünf Tage nach der Ermordung des Journalisten Gilles Jacques, die libanesische Grenze zu Syrien. Im Auftrag der Tageszeitung Le Monde sollte er eine Reportage über den blutigen Konflikt in Syrien schreiben. Er war dabei einer der wenigen ausländischen Journalisten, die sich frei von der Kontrolle der syrischen Behörden zwei Wochen in der Rebellenhochburg Homs bewegen konnten.

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In dieser Zeit begleitete er Widerstandskämpfer, besuchte Krankenhäuser und redete mit Syrern über den blutigen Konflikt, der seit über einem Jahr tobt.

Das Ergebnis dieser zwei Wochen sind akribisch gefüllte Notizbücher, die den syrischen Konflikt detailliert aus nächster Nähe erzählen.

Ein Romancier im Kriegsgebiet

Hierzulande wird der Name Jonathan Littell am ehesten jenen ein Begriff sein, die vor etwas dickeren Büchern nicht zurückschrecken. Mit seinem 1400-Seiten-Roman "Die Wohlgesinnten", in dem er aus der Perspektive eines Nazi-Offiziers im Zweiten Weltkrieg erzählt, erregte Littell im deutschen Sprachraum einiges an medialem Aufsehen.

In seiner Heimat Frankreich hingegen ist Jonathan Littell auch als Reporter bekannt. Als Mitarbeiter von NGOs und Journalist war er weltweit in Krisengebieten unterwegs. Nach Afghanistan, Bosnien, Tschtschenien oder dem Kongo berichtete er zuletzt 2008 vom Kaukasuskrieg.

Jonathan Littell zieht von einem Konflikt in den nächsten. Das spiegelt sich auch in seinen Notizen aus Syrien wider: Littell und die Kämpfer bleiben niemals länger an einem Punkt. Ständig ziehen sie weiter, von einem Checkpoint zum nächsten, von einer Beerdigung zur nächsten.

Hanser Verlag

"Notizen aus Homs" wurde von Dorit Gesa Engelhardt aus dem Französischen übersetzt und im Hanser Verlag erschienen.

Kalaschnikows, bitterer Whiskey und Träume von Foucault

Littell versucht alle Ereignisse dieser zwei Wochen in Syrien zu erfassen. Besuche in Krankenhäusern der Rebellen, karge Frühstückstische und gemeinsam entleerte Flaschen bitteren Whiskeys. Littell lässt nichts aus. In Fußnoten erklärt er sogar technische Details zur Funktionsweise von Waffen oder den Aufbau des syrischen Überwachungsapparats.

Seine Notizen lesen sich an manchen Stellen wie ein nüchterner Situationsbericht, dann wieder intim und emotional wie ein Tagebuch. Sie erzählen die Geschichten der Kämpfer und der Opfer des syrischen Bürgerkriegs, aber auch die persönliche Geschichte von Littell.

Auch als erfahrener Kriegsreporter kämpft er mit den traumatischen Momenten des Krieges und verarbeitet in den Notizen seine Ängste. Ab und zu schafft er es sogar über die schönen Momente zu schreiben. Etwa über Falafel, die besonders gut schmecken oder einen Traum, in dem Littell Michel Foucault zum gemeinsamen Mittagessen überredet.

Dokument und Literatur

Die persönliche Perspektive ist die große Stärke der Notizen aus Homs. Littell ist nah dran an einem blutigen Konflikt, doch das hat auch seinen Preis. Die Rebellen, die ihn in das Land schleusten, sind auch seine Beschützer und quasi Reiseührer. So ist eine objektive Berichterstattung eigentlich unmöglich.

Die Sympathie für die Gegner des Systems ist eindeutig herauszulesen. Die Perspektive der anderen Seite bleibt aus. Littell bewahrt aber trotzdem eine kritische Distanz zu den Rebellen und seinen Beschützern. Er lässt in seinen Schilderungen die Angriffe der Rebellen auf die Alawiten nicht aus.

Littells Aufzeichnungen erinnern an wacklige Bilder von Handykameras. Manchmal werden sie zu hektisch und wirr. Personen tauchen auf und verschwinden im gleichen Moment, der Ort des Geschehens ändert sich ständig. Es ist nicht immer einfach, diesem rasanten Tempo zu folgen.

Kein Wunder, dass Littell schreibt, seine Notizen wären Dokumente und keine Literatur. Doch einen Unterschied zu den wackligen Bildern aus den Nachrichten gibt es: Littell erzählt auch das, was vor und nach den Szenen passiert, die wir täglich im Fernsehen betrachten. Er erzählt die Geschichten der Widerstandskämpfer und der Opfer des Konflikts. Deswegen sind seine Notizen dann doch Dokumente und Literatur zugleich.