Erstellt am: 17. 9. 2012 - 21:13 Uhr
Ein Jahr Occupy Wall Street
Heute, zum Jahrestag der Besetzung des Zuccotti Park, hat OWS erneut versucht, mit mehreren Demonstrationszügen den Zugang zur Börse an der Wall Street zu erschweren. Protestiert und gefeiert wird an mehreren Orten in Downtown Manhattan.
Laufend kommt es zu Zusammenstößen mit der Polizei. Laut NYT sind bereits bis zum frühen Nachmittag über Hundert Aktivisten verhaftet worden. OWS hat einen Live-Stream zu den heutigen Aktivitäten eingerichtet.
Die Frau am Zaun vor der Bühne erzählt mir, dass sie extra aus LA angereist ist. Ich frage, welche der zahlreichen OWS-Working-Groups sie unterstützen würde. Die Frau, Anfang 50, groovy Lehrertyp, erzählt mir von Strike Debt, einer Gruppe, die verschuldeten Menschen aus der Krise hilft. Dann nimmt sie eine Gitarre, steigt auf die Bühne und beginnt zu singen. Die Frau ist Michelle Shocked, Ex-Popstar aus den Spätachzigern, immer schon Feministin, dieser Tage Occupy-Unterstützerin in LA. Nun bin ich etwas shocked.
Christian Lehner
Die Guitarmy, eine frei besetzte Riesenband "of the people", hat am Sonntag zum OWS Anniversary Concert an den Foley Square geladen. Dort, im Schatten des Obersten Gerichtshofes, führte Ex-Dead-Kennedys Frontmann und Grünen-Politiker Jello Biafra durch das Programm. Occupy sei keine Organisation, sondern ein Bewusstseinszustand, so der verhinderte Präsidentschaftskandidat von 2000. Er sei hier, um das zu tun, was Rock- und Popmusik heute noch tun könne: "engergizing the base!" Jello trägt ein schwarzen „Shockuppy“ T-Shirt. Er toasted eine A-Capella Version eines Anti-Obama-Songs ins Mikrofon. Beim anschließenden Interview rät er dennoch im November zur Wahl zu gehen, schließlich würde beim Urnengang parallel zur Präsidentenkür auch über viele wichtige Gesetzesentwürfe abgestimmt. Aber Obama? Screw him!
OWS
Auch der Star der Show misstraut der institutionellen Politik. Vor seiner Bandkarriere versuchte sich Tom Morello im Staff des demokratischen Senators Alan Cranston. „Er war der progressivste Typ im ganzen Senat und alles was er tat, war Spendensammeln und um Geld für seine Wahlkampagnen betteln“. Auch für den langjährigen Politaktivisten ist der Impact von Occupy nachhaltig und nicht in einem Politprogramm festschreibbar: „Wir haben einen republikanischen Präsidentschaftskandidaten, der sich vor der eigenen Basis für seine Bilanz als Geschäftsmann rechtfertigen muss. So etwas gab es vor Occupy nicht in den USA.“
Die Szenerie ist überschaubar an diesem Sonntagnachmittag. Wo im vergangenen Oktober noch Zehntausende am Foley Square demonstrierten, fläzen jetzt gut 2000 Menschen in der Herbstsonne. Sie geben sich den fuchsteufelswilden Jello Biafra, die tighten Raps von Rebel Diaz, das Gitarrengejaule von Sonic-Youth-Saitenmann Lee Renaldo, die rüstigen Raging Grannies und den Massen-Jam der Guitarmy, die neben dem etwas schlichten World Wide Rebel Song auch den seit Woody Guthrie unkaputtbaren Protestsongklassiker „This Land Is Your Land“ zum Besten gibt.
Christian Lehner
Der Drum Circle ist ebenso aufgekreuzt wie die People’s Library und die Squatters, die gemeinsam mit den Anarchisten im Zuccotti Park einen lauten Gegenpol zu den linken Sozialreformern, Intellektuellen, Gewerkschaftsleuten und Studenten bildeten. Alles ist überschaubarer, kleiner und (bis auf Jello) unaufgeregter. Dennoch erinnert die Stimmung milde an jene im "Liberty Square" im Herbst 2011.
In diesem einen Occupy-Jahr sind aus der Bewegung zahlreiche Gruppen und Organisationen hervorgegangen. Sie haben sich auf oft lokale Themenfelder wie Fracking, Stop-And-Frisk, Entschuldung, Nahverkehr, Wahlkampffinanzierung oder Gewerkschaftsarbeit spezialisiert. Trotz der Rückschläge, Fragmentierungen und Auflösungserscheinungen, des Zynismus, der Vereinnahmung und Zurückweisung und der eingeschlafenen Aufmerksamkeit der US-Medien sind sie immer noch da und machen weiter. Viele ehemalige Aktivisten und sympathisierende Kommentatoren meinen nun, das vielbeschworene System hätte (wieder einmal) gewonnen. Vielleicht hat es aber auch bloß eine weitere Chance zur friedlichen Erneuerung vergeben.
In der Menschenmenge treffe ich Patrick Robbins von Occupy The Pipeline. Der junge Student setzt auf den Faktor Zeit und fühlt sich ein wenig an den bittersüßen Erfolg von The Velvet Underground erinnert: "VU haben von ihrem ersten Album auch nur ein paar Hundert Stück verkauft. Aber man erzählt sich, dass alle Käufer danach eine eigene Band gegründet haben. I have a feeling, with Occupy it's the same thing."