Erstellt am: 17. 9. 2012 - 16:02 Uhr
Was ist die größte Lüge im World Wide Web?
Manche von euch haben im Urlaub bestimmt schon auf der einen oder anderen Couch geschlafen. Einem Schlafplatz vielleicht, den ihr auf der Website couchsurfing.org gefunden habt. Dort kann man nach gastfreundlichen Menschen weltweit suchen oder auch das eigene Sofa zum Übernachten anbieten. Bevor man die Website benutzen darf, muss man - wie üblich - die "Terms of Service" akzeptieren, also die "Allgemeinen Geschäftsbedingungen" oder "AGB".
Die aber haben es seit neuestem in sich: Seit letztem Freitag wollen die Betreiber von couchsurfing.org praktisch den Datenschutz abschaffen. Sie behalten sich das Recht vor, alle Userdaten an Dritte weiterzugeben - auch an andere Firmen. Eine solche Bestimmung ist in Europa kaum gesetzeskonform – aber wer liest schon die vielen Seiten Geschäftsbedingungen all der Websites, die wir so benützen? Eine Organisation tut es seit Juni: Die aus dem Free Software Movement hervorgegangene Plattform „Terms of Service; Didn't Read“, kurz ToS;dr.
ToS;dr
Ein beträchtlicher Teil der Software, die wir heutzutage benutzen, läuft im Webbrowser. Twitter, Youtube oder Facebook - Online-Anwendungen, vor deren erstmaliger Benutzung wir einen Satz bestätigen müssen, der ungefähr lautet: "I have read and agree to the Terms of Service". Daneben machen wir brav unser Hakerl. Dieser Satz aber sei "die größte Lüge im World Wide Web", sagt Michiel de Jong, einer der Gründer von ToS;dr: "Kaum jemand liest die Geschäftsbedingungen, denn sie sind lang und fad. Mit ToS;dr wollen wir einerseits das Bewusstsein der User schärfen für die Qualitätsunterschiede bei den Terms of Service. Denn manche Websites haben durchaus gute Geschäftsbedingungen, andere haben sehr schlechte. Andererseits wollen wir auch die Betreiber von Websites darauf aufmerksam machen, dass es tatsächlich jemanden gibt, der ihre Geschäftsbedingungen liest."
Michiel de Jong
"ToS;dr" liest die Allgemeinen Geschäftsbedingungen von Websites nicht nur, sondern bewertet sie auch in verschiedenen Kategorien wie z.B. Privacy oder Copyright. Die Gesamt-Punkteanzahl, die sich aus den einzelnen Kategorien ergibt, führt zu einer Klassifizierung. "Class A" steht für einen Service, der "den User fair behandelt, seine Rechte respektiert und Daten nicht missbraucht". Mit "Class E" bewertete AGB hingegen "geben Anlass zu ernsten Bedenken".
Zu den am schlechtesten bewerteten Anwendungen gehört die Smartphone-App "Twitpic". Michiel de Jong: "Wenn man dort ein Foto hochlädt, um es in einem Tweet zu verwenden, dann akzeptiert man unter anderem die Bestimmung, dass Twitpic das Foto an Medien verkaufen und die Rechte dafür in Anspruch nehmen kann. Und das ist auch schon passiert: Ein Twitpic-User hat das Flugzeug fotografiert, das in New York auf dem Hudson River notgelandet ist. Später ist das Foto ohne Wissen des Fotografen in Tageszeitungen aufgetaucht - mit dem Copyright-Vermerk Twitpic."
Viele Passagen in den AGB von Onlineservices sind aus rechtlicher Sicht fragwürdig – insbesondere in der EU, wo User durch das Datenschutzrecht oder das Urheberrecht besser geschützt sind als durch entsprechende Gesetze in anderen Teilen der Welt. Geschäftsbedingungen wie die De-Facto-Abschaffung des Datenschutzes bei couchsurfing.org oder die automatische Übergabe der Fotorechte bei Twitpic würden vor europäischen Gerichten kaum halten. Die Organisation ToS;dr sieht ihre Aufgabe aber nicht in Klagen gegen Website-Betreiber - sondern in Bewusstseinsbildung und Diskurs: "Wenn Änderungen wie jene bei couchsurfing.org geschehen, dann starten wir als erstes einmal einen Thread in unserer Mailingliste. Sie ist wie ein Forum. Jeder User kann dort Diskussion starten".
Diskussionen, an denen sich in Zukunft hoffentlich mehr Menschen beteiligen werden. Die nur drei Monate junge Plattform "Terms of Service; didn’t read" sucht derzeit Spenden, um mehr Analysen und Reviews von AGB online stellen zu können: "Wir wollen 10.000 Euro sammeln, damit wir mehr Leute in die Arbeit einbinden können. Wir wollen, dass ToS;dr unabhängig ist, und nicht mit irgendeiner anderen Organisation verbunden – daher das Crowdfunding". Websites und Apps, deren Allgemeine Geschäftsbedingungen einen genaueren Blick und einen breiteren Diskurs erfordern würden, gibt es jedenfalls genug.