Erstellt am: 14. 9. 2012 - 19:15 Uhr
"Es ist einfacher, seicht zu sein"
ORF.at: Sie sind seit etwa zehn Monaten im EU-Parlament. Was war ihr interessantestes Erlebnis in dieser Zeit?
Amelia Andersdotter: Ich arbeite im Ausschuss für internationalen Handel. Im Frühjahr gab es sehr harte Debatten um das Handelsabkommen ACTA, der Druck auf die EU-Parlamentarier war wirklich sehr hoch.
Der sozialdemokratische Berichterstatter hatte gerade seine Stellungnahme vorgestellt und ich die Position der Grünen Fraktion – beide lehnten ACTA ab. Dann kamen einige Konservative und argumentierten, dass ACTA wichtig sei, um Jobs in Europa zu schaffen. Daraufhin ergriff der Vizevorsitzende unseres Ausschusses, ein konservativer Pole, das Wort und sagte, dass wir uns um diese Internet-Angelegenheiten ernsthaft kümmern sollten. Die Leute würden sich online gerne frei unterhalten und wir könnten wohl kaum die Gesellschaft der Zukunft aufbauen, wenn wir die Bürger ignorierten.
Ich hörte ihm dabei zu, wie er seine Stellungnahme vorbrachte und dachte mir: "Wow, ich bin gerade in Sachen Fortschrittlichkeit von einem konservativen Polen überholt worden." Das hat mich wirklich stark beeinflusst. Polen ist ein starkes und wichtiges Land in der EU und die Menschen dort legen großen Wert auf freie Meinungsäußerung, weil sie in den 1980er Jahren stark unterdrückt worden sind.
ORF.at/Günter Hack
Zur Person:
Amelia Andersdotter ist mit 24 Jahren die derzeit jüngste Abgeordnete im Europaparlament. Sie wurde 2009 für die schwedische Piratenpartei in die EU-Volksvertretung gewählt, musste aber bis zur Erweiterung des Parlaments auf Grundlage des Lissaboner Vertrags im Dezember 2012 warten, bis sie nachrücken konnte. Die Piratenpartei ist im EU-Parlament eine Fraktionsgemeinschaft mit den Grünen / Europäische Freie Allianz eingegangen. Andersdotter hat als Mitglied des Industrieausschusses das umstrittene Handelsabkommen ACTA unter die Lupe genommen. Sie hat ihr Studium (Mathematik, Physik, Wirtschaftsrecht, Spanisch) an der Universität Lund für die Dauer ihres Mandats unterbrochen.
Wie haben Sie aus der Innenansicht des Parlaments die Proteste gegen ACTA erlebt? Haben die Demonstrationen bei den Mandataren Eindruck gemacht?
Es hatte einen großen Einfluss. Das EU-Parlament hatte zwar schon vorher seine Verärgerung darüber zu Protokoll gegeben, nicht in die Verhandlungen mit einbezogen worden zu sein. Aber im Frühjahr brachen die Proteste in der Bevölkerung voll aus. In den USA war der Streit über die Gesetzesentwürfe SOPA und PIPA ausgebrochen, mit denen das Copyright im Netz auf Kosten der freien Kommunikation hätte gestärkt werden sollen. Die Wikipedia ging aus Protest dagegen einen Tag lang vom Netz. Die EU-Bürger waren also von der US-Politik direkt betroffen, hatten aber keine Möglichkeit, dagegen vorzugehen. Das fachte die Proteste gegen ACTA mit an.
Normalerweise haben die EU-Abgeordneten es ja nur mit Protesten in einzelnen Staaten zu tun, das können sie wegstecken. Die Parlamentarier haben eine dicke Haut entwickelt. Sie reden dann mit ihren Kollegen aus den anderen Ländern, dort heißt es dann: Alles nicht so schlimm, bei uns ist das kein Thema. Bei ACTA waren aber sehr viele Länder betroffen. Es gab nun keine Rückzugsmöglichkeit mehr für die Parlamentarier. Die nationalen Parlamente, die von den Bürgerprotesten betroffen waren, entschieden sich dazu, die Verantwortung auf die EU-Ebene abzuwälzen. Sie entschlossen sich dazu, die Ratifizierung von ACTA auszusetzen, bis das EU-Parlament seine Entscheidung getroffen hatte. Das wiederum erhöhte den Druck auf die EU-Abgeordneten enorm.
Normalerweise wird das EU-Parlament ja gerne ignoriert. Deshalb sind die Abgeordneten diesen gewaltigen politischen Druck nicht gewöhnt. Im Endeffekt haben die Proteste gegen SOPA und PIPA eine große Rolle gespielt. ACTA war ein wichtiger Sieg, aber der Kampf ist nicht vorbei, wir müssen weiterarbeiten, wenn wir das Internet als Raum für freie Kommunikation offen halten wollen.
Im Rahmen von ACTA wurde auch über den großen Einfluss von Lobbyisten auf das Parlament debattiert. Wie gehen Sie mit dem Thema um?
Ich bin nicht oft von Lobbyisten angesprochen worden. Manchmal kommt es vor. Ich habe bisher keine Veranstaltungen mit Lobbyisten geplant. Viele Abgeordnete tun sich mit Lobbyisten zusammen, um bestimmte Themen auf die Agenda zu setzen. Das finde ich dumm, denn jeder weiß, dass die Lobbies nur sehr begrenzte Interessen vertreten. Ich weiß nicht, wie viele Parlamentarier begreifen, dass die Lobbies ihre Ziele nicht direkt durchdrücken, sondern vielmehr den Rahmen festlegen, in dem bestimmte politische Fragen verhandelt werden.
Es kommt aber auch darauf an, ob die Lobby den Abgeordneten anspricht oder umgekehrt. Wenn wir für die Zivilgesellschaft eine Veranstaltung organisieren, dann kann es auch sinnvoll sein, Industrievertreter zu Wort kommen zu lassen, damit alle Stimmen gehört werden. Aber wenn die Lobbyisten eine Veranstaltung organisieren, setzen sie den Rahmen, innerhalb dem ein Thema diskutiert werden kann.
ORF.at/Günter Hack
Amelia Andersdotter war auf Einladung des Kulturfestivals Paraflows 2012 zu Gast in Wien.
Die EU-Kommission will das Datenschutzrecht neu ordnen, damit die Nutzer in Europa gegenüber Konzernen wie Facebook einheitliche Rechte haben. Fälle wie die Beschwerde Wiener Studenten vor der irischen Datenschutzbehörde über Facebook sollen somit einfacher gehandhabt werden können. Wie sehen Sie das?
Der Vorschlag der Kommission würde den Mitgliedsstaaten nicht so großen Spielraum bei der Ausgestaltung des Datenschutzrechts geben. Die Unterschiede zwischen Österreich und Irland wären nicht mehr so groß und auch Facebook müsste sich anpassen.
Momentan scheinen aber eher die staatlichen Behörden Probleme damit zu haben, sich an die Verordnung anzupassen. Die EU-Kommission scheint sich auch schwer damit zu tun, diesen Bereich zu regulieren. Sie hat sich deshalb selbst viele Freiräume gegeben, um bei Bedarf eingreifen zu können. Die Industrie macht sehr viel Geld mit den Daten der Nutzer, über die diese selbst keinerlei Kontrolle haben. Am Ende können die Nutzer nur dann selbstbestimmt im Netz agieren, wenn sie genau wissen, wie ihre Daten weiterverarbeitet und verwendet werden.
Die Industrie selbst ist sehr zurückhaltend damit, Informationen darüber herauszugeben. Ich habe mich einmal mit einer Gruppe Industrielobbyisten getroffen, die mit mir über die Datenschutzverordnung sprechen wollten. Sie argumentierten gegen die Forderung, die Datenverarbeitung transparent zu machen. Sie sagten, sie wollten ihr geistiges Eigentum schützen. Ich habe sie dann gefragt, welches geistige Eigentum sie eigentlich meinen. Sie sagten, dass sie das selbst nicht genau wüssten. Tragisch, nicht wahr? Sie wollten wohl die Algorithmen schützen, mit denen sie die Nutzerdaten auswerten.
Der Kampf um ACTA ist vorbei. Welche neuen Projekte wollen Sie angehen?
Das EU-Parlament arbeitet in sehr engen Bereichen, die in der Regel von der EU-Kommission vorgegeben werden. Derzeit kümmere ich mich um Themen wie die öffentlichen Subventionen für Breitbandanschlüsse, die freie Wiederverwendung staatlicher Daten oder die Zusammenarbeit zwischen der EU und Japan. Ich schreibe auch an einem Positionspapier über die Digitale Freiheitsstrategie der EU. Eine wichtige Aufgabe besteht darin, Ausnahmen und mehr Flexibilität ins geistige Eigentumsrecht zu bringen.
Es gibt auch immer mehr Industrien, die von den zunehmend harschen Regelungen in ihrer Innovationsfähigkeit eingeengt werden. Dazu kommt, dass die großen Anwaltskanzleien, die sich mit dem geistigen Eigentum befassen, mittlerweile selbst so stark geworden sind, dass sie eine ganz eigene Agenda verfolgen. Den Anwälten liegt nicht unbedingt der Fortschritt in Technik, Kunst und Wissenschaft am Herzen. Ihnen geht es darum, sich im Kampf um den Schutz bestimmter Objekte in eine möglichst gute Stellung zu bringen. Das wiederum ist nicht immer im Interesse der Industrie als Ganzes.
Die Halbleiterhersteller sind derzeit mit dem Patentrecht sehr unzufrieden, weil wir zu viele Trivialpatente haben. Es ist nicht möglich, vorauszusehen, unter welchen Umständen ein bestimmtes Produkt an der Grenze beschlagnahmt werden wird. Möglicherweise ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, das Patentrecht flexibler zu machen. Das ist aber eine schwere Aufgabe. Wir haben jetzt 20 Jahre lang immer nur das Mantra gehört: "Geistiges Eigentum muss geschützt werden". Das hat die politischen Institutionen sehr stark geprägt.
Der Vertrag von Lissabon hat das EU-Parlament gestärkt. Es hat nun aber auch mehr Verantwortung. Wie gehen Sie mit der Finanzkrise um, die auch die Europäischen Institutionen zunehmend unter Druck setzt?
Das EU-Parlament übernimmt nicht gern Verantwortung. Es ist eine Finanzkrise, also ist klar, dass die Kommission und die Mitgliedsstaaten verantwortlich sind. Wir sind vom Problemlösungsprozess weitestgehend ausgeschlossen. Also verabschieden wir Stellungnahmen, die wir dann nicht umsetzen können oder wollen. In den Ausschüssen, die nicht unmittelbar mit Finanzfragen befasst sind, läuft das übliche Programm ab.
Es ist ziemlich leicht, gute Absichten zu äußern, das mache ich auch. Aber was wir tun können und tun wollen, das steht dann auf einem anderen Blatt. Als EU-Parlamentarier können wir gegen die Krise nur sehr, sehr wenig tun. Die Hauptverantwortung liegt beim EU-Ministerrat, bei den Regierungen der Mitgliedsstaaten.
Das Parlament ist voller guter Absichten, hat aber keine Lust dazu, diese Absichten auch umzusetzen. Ein Beispiel dafür ist die Netzneutralität, also der gleichberechtigte Transport aller Daten im Internet. Alle sagen, dass es wichtig ist, dass junge Unternehmen unbehinderten Zugang zum Netz bekommen. Die Regulierungsbehörden haben schon längst festgestellt, dass Transparenz über die Eingriffe der Provider in den Datenstrom und freie Portabilität von Telefonnummern allein längst nicht zu Netzneutralität führen. Den Parlamentariern ist das egal, die glauben höchstens, dass es noch nicht genügend Transparenz gibt. Das ist nicht der Fall. Wenn die Provider dazu verpflichtet sind, ihre Maßnahmen offenzulegen, heißt das noch lange nicht, dass sie die Netzneutralität nicht verletzen. Es bedeutet nur, dass den Kunden mitgeteilt wird, dass der Provider die Netzneutralität verletzt.
Das ist ein typisches Beispiel für diese Diskrepanz: Wir haben die Netzneutralität in Stellungnahmen laut gepriesen – trotzdem schaffen wir es nicht, uns einzugestehen, dass die bisherige Politik vollkommen unzureichend ist. Sie sind nicht einmal so konsequent, zu sagen, dass sie Netzneutralität nicht wollen. Aber nein: Man hebt ein Ziel wie die Netzneutralität immer wieder als wichtig hervor, tut aber dann überhaupt nichts, um sie zu sichern. Aber mir wurde auch gesagt, dass alle politischen Institutionen so funktionieren. Jeder sagt gern nette Dinge, aber niemand will Verantwortung übernehmen.
Berührt Sie das?
Manchmal frustriert mich das. Es ist schwer, Verantwortung zu übernehmen. Ein Beispiel: Letzes Frühjahr hat mich ein deutscher Journalist kontaktiert und mich zu einem Statement befragt, das ich über den schwedischen Premierminister abgegeben hatte. Ich war mir nicht mehr sicher, ob ich das so gesagt hatte, es war ein ziemlich unhöflicher Satz. Solche Dinge kommen dann immer wieder zu dir zurück, entwickeln ein Eigenleben. Die Angst, einen Fehler zu machen, ist auch sehr groß. Es wäre auch schön, wenn die Medien Fehler schneller verzeihen würden.
Die Piratenpartei ist auf EU-Ebene eine Fraktionsgemeinschaft mit den Grünen eingegangen. Mittlerweile sind die Piraten aber in vielen Mitgliedsstaaten so erfolgreich, dass sie eine Konkurrenz zu den Grünen darstellen. Schlagen diese Konflikte auch auf die Arbeit im EU-Parlament durch?
Einmal hat mir ein Grüner während einer Ausschusssitzung einen Zettel zugeschoben, mit dem er mich provozieren wollte. Abgesehen davon ist nicht viel passiert. Die Leute, die in Deutschland für die Piratenpartei gestimmt haben, sind ja nicht nur von den Grünen gekommen. Sowohl die Grünen als auch die Piraten sprechen Themen an, die sehr viele Menschen bewegen. Aber die Schwerpunkte sind verschieden gesetzt und sie sammeln ihre Wähler aus verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Mich würde eher interessieren, warum die Konservativen, die Sozialdemokraten und die Liberalen nicht für die Wähler attraktiver sind. Grüne gegen Piraten – das ist halt eine gute Show.
Was denken Sie über den Fall Assange, in den ja auch Schweden stark involviert ist.
Zuallererst möchte ich sagen, dass ich die Grundidee und die Aktivitäten von WikiLeaks voll und ganz unterstütze. Es muss einen Ort geben, an dem Nachrichten veröffentlicht werden können, die sonst nicht an die Öffentlichkeit geraten würden. Wenn ich den besonderen Fall Julian Assange getrennt von WikiLeaks betrachte, dann finde ich ihn tragisch.
Es wirkt wie ein Theaterstück, in dem er der Superstar ist. Ich war 2010 tief verletzt, als der Fall bekannt wurde. Assange hat viele Leute, die ich persönlich kenne und mit denen ich gearbeitet habe, dazu gebracht, sich gegen das Recht der Frau zu wenden, über ihren eigenen Körper verfügen zu können. Er hat es so hingestellt, als ob es das gefährlichste Ding der Welt wäre. Als Frau, die in Schweden aufgewachsen ist, finde ich es selbstverständlich, dass ich entscheiden kann, was mit meinem Körper passiert.
Was die rechtlichen Aspekte betrifft, so sind Julian Assanges Ängste vor dem schwedischen Staat ungerechtfertigt. Es wäre einfacher für alle, wenn er einfach nach Schweden gehen würde. Es wäre einfacher gewesen, ihn von Großbritannien aus an die USA auszuliefern als von Schweden aus. Es kommt mir wie eine dumme Show vor, in der die Rechte der Frauen verhöhnt werden. Das kann ich nicht gut finden.
Was machen Sie eigentlich, um abzuschalten?
Ich gehe demnächst auf ein Laibach-Konzert. Außerdem lese ich viele schwedische Krimis aus den 1960ern - auf Holländisch, damit ich die Sprache lerne und mich gleichzeitig mit der schwedischen Kultur der 60er Jahre vertraut mache. Ich finde es entspannend, wenn ich weiß, dass es da draußen noch weitere Leute gibt, die kompetent über meinen politischen Kernbereich, die Urheberrechtsfragen, reden können. So viele sind das nicht.
Sie haben Ihr Studium abgebrochen, als Sie ins EU-Parlament gewählt worden sind. Wollen Sie noch einen Abschluss machen?
Hm, nicht unbedingt einen Abschluss. Es gibt aber viele Themen da draußen, die mich interessieren und die überhaupt noch nicht untersucht worden sind. Ich will wissen, wie das geistige Eigentumsrecht in Zentral- und Osteuropa ausgestaltet ist und Vergleiche mit West- und Nordeuropa anstellen. Normalerweise untersucht man ja immer nur das Recht der großen Staaten wie Großbritannien oder Deutschland, aber die kleineren Staaten werden kaum beachtet. Das ist eigentlich eine Schande.
Mit der Politik geht es immer auf und ab. Manchmal ist es Spaß, manchmal ist es schwierig. Wenn man sich wirklich für ein Thema interessiert, dann kann es schnell frustrierend werden, in einer politischen Institution zu arbeiten. Es ist dann einfacher, jemand zu sein, der an verschiedene Orte reist und auf seichte Weise über verschiedene Themen spricht und nicht zu sorgfältig darüber nachdenkt. Das macht es für dich einfacher - und auch für den Rest der Welt.