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Robert Rotifer London/Canterbury

Themsenstrandgut von der Metropole bis zur Mündung: Bier ohne Krone, Brot wie Watte und gesalzene Butter.

13. 9. 2012 - 18:13

There's A Cloud Over Liverpool

Nach 23 Jahren ist das Unrecht der Tragödie Hillsborough nun endlich offiziell aufgeklärt, die diffamierten Liverpooler Fans rehabilitiert. Aber gegessen ist diese Geschichte noch lange nicht.

Einer von vielen Gründen, warum ich auch nach bald sechzehn Jahren trotz aller Frustrationen immer noch so gern in diesem Land lebe:

Die Briten mögen eine vom Verhalten derer da oben wie derer da unten und erst recht derer in der Mitte gleichermaßen perpetuierte Klassengesellschaft pflegen.
Sie mögen sich regelmäßig vom Mythos ihrer Nation und der Monarchie einseifen lassen, den Verarschungen durch ihre Bahngesellschaften mit viel zu viel Geduld begegnen, die Finanzwirtschaft und überhaupt materielle Macht auf ganz ungesunde Weise fetischisieren und ihren medialen und politischen Institutionen weit mehr Ehrenhaftigkeit zugestehen, als diese verdienen, aber:

Gerade letzterer Irrglaube an die Existenz eines Anstandskodex bewahrt sie andererseits wieder vor der Falle der etwa in Österreich so weit verbreiteten Resignation gegenüber Unrecht, das von oben kommt.

In jeder westlichen Demokratie, egal ob traditionell mehr autoritär oder liberal, gibt es Fälle der offiziellen Verhüllung von Missetaten der Exekutive, das liegt in der Natur ihrer Macht.

Bloß in Großbritannien enden diese eben nicht mit einem machtlosen Achselzucken, sondern - wie im Fall des Desasters von Hillsborough - mit einer 23 Jahre anhaltenden Kampagne für späte Gerechtigkeit und dem gestern veröffentlichten Gutachten des vom Bischof von Liverpool geleiteten Hillsborough Independent Panel. Und in weiterer Folge damit, dass sich der Premierminister persönlich im Unterhaus für das Verhalten der Polizei und der Regierung jener Zeit entschuldigen muss.

Die Ereignisse des 15. April 1989 haben eine symbolische Bedeutung, die weit über die nun endlich offiziell geklärten Fakten hinausgeht.

96 Fans des Liverpool FC starben in einer Massenpanik im Stadion von Sheffield Wednesday, wo ihr Team ein Cup-Semifinale gegen Nottingham Forest bestreiten sollte. Nachdem an den 23 Drehkreuzen an den Eingängen großer Andrang herrschte, hatte ein unerfahrener Polizeioffizier einen Notausgang als Zugang in den eingezäunten Liverpooler Stehplatzsektor öffnen lassen, was zu einem tödlichen Menschenstrudel führte.

Hillsborough-Desaster, Liverpool-Fans klettern hoch

PA / -/drm-cl

Hillsborough 1989: Fans retten sich aus dem Stehplatzsektor auf die Tribüne

Soviel stand schon im Jahr der Tragödie nach dem ersten Report von Lord Justice Taylor fest. Was jene Untersuchung aber nicht in Frage stellte, war die Darstellung der Polizei, wonach Trunkenheit, versuchtes Eindringen ohne Tickets und Randalieren seitens der Fans mit zur Katastrophe beigetragen hätte. Die chaotische Reaktion der Rettungsdienste (der Bericht des Hillsborough Independent Panel spricht von 41 vermeidbaren Todesfällen) wurde ebenfalls unter den Teppich gekehrt.

Titelseite der Sun "The Truth"

public domain

Das Urteil der Öffentlichkeit war zu diesem Zeitpunkt ohnedies längst gefällt: Nur vier Tage nach dem Desaster hatte die Tageszeitung The Sun mit dem Wort "The Truth" getitelt und darunter die Fußballfans denunzierende Behauptungen verbreitet: "Manche Fans gingen durch die Taschen der Opfer. Manche Fans urinierten auf die mutigen Cops. Manche Fans schlugen einen Polizisten zusammen, der eine Wiederbeatmung durchführte."

Zehntausende Liverpool-Fans, die in Hillsborough dabei waren und die Ereignisse mit eigenen Augen gesehen hatten, wussten, dass jede einzelne dieser Schauergeschichten, die dem Anhang die Schuld am Tod ihrer Freunde zuschob, die pure Fabrikation war.

Liverpool bleibt seither die eine britische Stadt, wo das populärste Boulevardblatt des Landes sich beharrlich mies verkauft, ja von einer großen Zahl von Geschäften grundsätzlich boykottiert wird. Im Rest des Landes hielt sich dagegen der von der Sun-Story kreierte Mythos beharrlich, wie nicht zuletzt ein fünfzehn Jahre danach erschienenes Editorial der konservativen Wochenzeitung The Spectator zeigte, das den Liverpoolern grundsätzlich einen Hang zur Wehleidigkeit und "rührseliger Sentimentalität" unterstellte:

Sie hätten die Polizei zum "willkommenen Sündenbock" und die Sun zum "Prügelknaben" gemacht, anstatt die Schuld "besoffener Fans" einzugestehen, die "geistlos" versucht hätten, sich durch die Menge auf den Platz zu drängeln. Diese entgegen dem Zeitungsnamen einzig auf Spekulation, mitnichten auf Beobachtung beruhenden Zeilen erschienen als Redaktionsmeinung ohne Autorenzeichnung. Chefredakteur war damals der heutige Londoner Bürgermeister Boris Johnson. Er musste sich bereits damals, und nun auch heute wieder dafür entschuldigen.

2004: Liverpool-Fans trauern bei Gedenken an Hillsborough

PA /Martin Rickett

Trauernde Liverpool-Fans 2004 beim 15. Jahrestag von Hillsborough - laut Boris Johnsons Spectator bloß "rührselige Sentimentalität"

Kein unwichtiges Detail, schließlich sägt Johnson mittlerweile schon so gut wie offen am Sessel David Camerons.

Die Erinnerung an die damalige journalistische Entgleisung des vermeintlich harmlosen Londoner Spaßmachers kommt dem Premierminister durchaus gelegen. Sollte Johnson sich je einbilden, er könne auf nationaler Ebene kandidieren, wird man ihm diese peinliche Geschichte unter die Nase reiben. Was seine damalige Recherche angeht, waren jedenfalls auch die Hintergründe der ursprünglichen Titelgeschichte der Sun um nichts substanzieller. Rupert Murdochs mächtigstes Blatt übernahm einfach die Meldung einer regionalen Nachrichtenagentur aus Sheffield, die ihrerseits von hochrangigen Beamten der South Yorkshire Police und einem konservativen örtlichen Parlamentarier lanciert worden war.

Das Ziel der Fehlinformation war selbstredend eine Entlastung der Exekutive, der Stil der Diffamierungen reproduzierte wiederum wohlbekannte Klischees, nicht zuletzt das vom Liverpooler als "thieving scouser", der keine Gelegenheit zur Kleinkriminalität auslässt - zweifellos noch verstärkt durch die Rolle der Liverpool-Fans im Heysel-Desaster vier Jahre davor. Wer braucht da noch Beweise?

Wie der damalige Sun-Chefredakteur Kelvin MacKenzie gestern in seiner Entschuldigung für seine damalige Berichterstattung erklärte, sei er damals selbst vom Agenturbericht hinters Licht geführt worden.

Wenn ein Chefredakteur die beschämende Tatsache, dass er eine enorm heikle Titelstory wie diese nicht einmal mit Augenzeugen oder anderen Quellen gegenchecken hat lassen, als Entschuldigung verwendet, ist eigentlich schon alles vorbei. Tatsächlich wusste MacKenzie wohl ganz genau, welches Publikum er bediente. Wir haben es hier schließlich mit der Sun als treuer Verbündeter Margaret Thatchers zu tun, die nur fünf Jahre davor die in Hillsborough tätige South Yorkshire Police in der Schlacht von Orgreave gegen streikende Minenarbeiter eingesetzt hatte.

Ende der Achtziger Jahre, nach dem (von Thatcher selbst post-Heysel angeregten und von der FIFA durchgesetzten) jahrelangen Ausschluss englischer Vereine von internationalen Bewerben, sah sich die Fußballkultur Großbritanniens so tief wie nie zuvor oder danach in die Außenseiterrolle gedrängt.

Die Gentrifizierung des Sports in den Neunziger Jahren war damals noch unvorstellbar, der "Fußball-Fan = Hooligan" die Personifizierung des proletarischen Dämon als Feindbild der thatcheristischen Revolution des aufstrebenden Kleinbürgertums.

Die der South Yorkshire Police zu Dank verpflichtete Premierministerin kommentierte 1990 ein internes Memo, in dem der damalige Innenminister Douglas Hurd ankündigte, er würde die Stoßrichtung des Taylor-Reports willkommen heißen, handschriftlich: "Was meinen wir damit, dass wir 'die Stoßrichtung des Reports willkommen heißen'? Die Stoßrichtung ist eine vernichtende Kritik an der Polizei. Sind wir dazu da, das willkommen zu heißen?"

Seit gestern ist nun belegt, dass die South Yorkshire Police nicht nur falsche Gerüchte über das Verhalten der Fans streute, sondern auch 114 Zeugenaussagen zensurierte, um die eigenen Beamten zu entlasten bzw. an den Toten Alkoholtests durchführte und ihren Leumund überprüfte, um die These ihrer Eigenschuld zu untermauern.

Die Führung der South Yorkshire hatte sich noch am Tag nach der Tragödie zusammengesetzt, um sich über eine offizielle Linie zu den Ereignissen zu beraten, die dann durch systematische Verfälschung von Berichten, gewürzt mit erfundenen Falschmeldungen an die Öffentlichkeit gebracht wurde. Die Frage ist, wie häufig derart systematische Manipulationen der Fakten seitens der Polizei sonst noch stattgefunden haben.

Liverpool-Schal und Blumenkränze vor Hillsborough-Denkmal

PA /Stephen Shakeshaft/MPC

Die Erkenntisse des Hillsborough Independent Panel werden mit großer Sicherheit zu Prozessen gegen hohe Tiere der South Yorkshire Police von damals führen. Alles andere würde bloß den wachsenden Eindruck bestätigen, dass die Obrigkeit über jede Rechtssprechung erhaben ist.

Camerons Entschuldigung allein wird jedenfalls nicht reichen, schließlich war er selbst vor 23 Jahren nicht beteiligt, da lässt sich leicht sorry sagen. Und den Zorn der britischen Fußball-Community bzw. derer da unten sollte auch das sicher im Sattel sitzende Establishment nie unterschätzen.

Als Thatcher im Jahr des Taylor-Reports von der eigenen Fraktion abserviert wurde, hatte das zwar nichts mit Hillsborough zu tun, sehr wohl aber mit den Straßenunruhen gegen die von ihr vorgebrachte Kopfsteuer (den Poll Tax Riots).

Dank der Verhüllungsversuche von oben blieb die Geschichte von Hillsborough, die längst abgeschlossen sein hätte können, 23 Jahre lang eine offene Wunde. Das späte Herauskommen der Wahrheit ist ein erster Schritt zur Heilung, zu Ende ist diese Geschichte aber noch lange nicht.