Erstellt am: 11. 9. 2012 - 10:42 Uhr
Watching Windows
Links hinter dem Flaschenzaun des Künstlernachbarn vom gegenüberliegenden Haus ragt er empor, der Einserturm des neuen World Trade Center. Aus der Entfernung sieht er aus wie der Onkel vom Mars. Nur dass die zwei Antennen am Kopf zwei Kräne am Dach sind. Noch wird gebaut. Am Abend legt man dem Einserturm einen patriotischen Lichtermantel um. Seit Tagen bzw. Nächten stehen ihm zwei Laser Beams zur Seite. Alljährlich um diese Zeit symbolisieren sie die zwei gefallenen Türme des WTC. Es ist die Nacht vor dem 12. Jahr des 11. September.
Christian Lehner
Aussicht ist wichtig. Aussicht ist gut. Aussicht ist immer erhellend, selbst wenn es dunkel ist. Mein kleiner Schreibtisch stand noch in jeder Wohnung am Fenster mit dem besten Blick auf die Stadt, die Straße, die Menschen. Bei meiner ersten NYC-Bleibe war das zwar bloß eine Ziegelwand mit Feuerleiter in einem Tenement-Hinterhof im East Village. Aber immerhin ließ sich auf der Feuerleiter etwas Leben beobachten - tierisches wie menschliches. Seit einigen Monaten, seit wir vom ersten Stock eines Brownstones in Clinton Hill, BK in den vierten Stock einer ehemaligen Fabrik in Bedford Stuyvesant, BK gezogen sind, ist dieses wichtigste Fenster der Wohnung erstmals erhöht mit Blick auf die Skyline Manhattans.
Im Süden kann man die Spitzen des Financial Districts erspähen, im rechten Winkel von uns weglaufend die Dächer von Bed Stuy und Williamsburg, die am Horizont von den Bürotürmen Midtowns geschluckt werden. Nordöstlich setzen Flugzeuge zur Landung in La Guardia an. Das ist bereits in Queens. Die Bronx dahinter lässt sich nur noch erahnen. Der Himmel gehört den zahlreichen, zum Teil gezüchteten Taubenschwärmen. Und natürlich dem Wetter und seinen manchmal ganz schön bedrohlichen Szenarien in 3D.
Christian Lehner
Darunter das Leben der Hood, das sich in seiner Vielfalt und sozialen Verwerfungen erst nach mehreren Augenwanderungen offenbart. Das Radar identifiziert den allmorgentlichen Menschenhaufen vor dem angrenzenden Baumarkt erst allmählich als Latino-Arbeiterstrich. Chassidische Familien, junge Neuankömmlinge und die alteingesessenen Afroamerikaner schleppen Baumaterial aus dem Markt. Wenn sich die Nacht über das angrenzende Gewerbegebiet mit seinen unbewohnten Straßen senkt, tauchen gelegentlich, aber immer seltener Corner Boys und ihr Klientel auf. Hastig werden kleine Päckchen austauscht. Am Wochenende heulen die Motoren der Afro- und Latino Biker auf. Letztens parkte ein kleiner Konvoi von SUVs und Chevrolet Camaros am Straßenrand. Es folgte eine Improv-Block-Party. Der Sound der Boomin' Systems markierte für 15 Minuten das Revier. Danach zog die Karavane weiter zum nächsten Instant-Club. Ein Polizeihubschrauber kreist regelmäßig mit eingeschaltenem Suchscheinwerfer über den berüchtigten Marcy Projects. Jay-Z wohnt schon lange nicht mehr da. Der Sound der Rotorblätter battelt sich mit dem Ächzen der Klimaanlagen. Sonst kaum noch Bewegung. Es stimmt ja nicht, was gesungen wird: Natürlich schläft auch die Stadt. Still ist sie trotzdem nie.