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Philipp L'heritier

Ocean of Sound: Rauschen im Rechner, konkrete Beats, Kraut- und Rübenfolk, von Computerwelt nach Funky Town.

9. 9. 2012 - 16:14

A Tale Of Many Cities

Der Song zum Sonntag: Bob Dylan - "Scarlet Town"

  • Der Song zum Sonntag auf FM4
  • Über "Scarlet Town" macht sich auch der geschätzte Wissenschafts- und Popjournalist Thomas Kramar in der Presse am Sonntag seine Gedanken.

Unter mächtigem Applaus von allen Seiten ist gerade offiziell das 35. Studioalbum von Bob Dylan erschienen, gut 50 Jahre nach seinem selbstbetitelten Debüt; mehr als nur ein würdiges Alterswerk, ein später Triumph - und tatsächlich: Man muss sich nicht allzu sehr strecken, um zu meinen, dass diese Platte eventuell gar zu den zehn besten in Dylans Karriere gehören könnte. "Tempest" hat Dylan das Album genannt, also "Sturm", nicht, so betont Dylan, wie nach Shapespeares letztem Stück "THE Tempest". Es ist nicht einer, ein einzelner spezieller Sturm, sondern eine grundsätzliche Wetterlage der ganzen Welt und der Menschen, die in ihr wohnen.





Ein durch und durch religöses Album hätte "Tempest" zunächst werden sollen, keine Seltenheit bei Dylan, stofflich ist sich das über die ganze Strecke dann irgendwie doch nicht ausgegangen. So ist das Album aber immerhin ein da und dort deutlich von religiösen Motiven durchwirkter, mächtiger Ziegel geworden. Aufgenommen hat es Bob Dylan mit seiner Live-Band, die - meist bescheiden und zurückhaltend - das Trägermaterial für die großen Erzählungen Dylans liefert, und mit David Hidalgo, Gründungsmitglied von Los Lobos, der an Gitarre, Akkordeon und Violine leise virtuos Akzente setzt.

"Tempest" ist voller Höhepunkte: Die beschwingt orgelnde und rumpelnde Single "Duquesne Whistle" etwa oder das Titelstück, das in 45 Strophen und nahezu einer Viertelstunde Spieldauer nicht weniger als den Untergang der Titanic schildert. Den Untergang der Menschheit?

Der vielleicht stärkste Song der Platte aber ist einer, in dem, wie so oft, auf den ersten Blick nicht allzuviel zu passieren scheint: "Scarlet Town", ein Stück, das ausdrücklich die alte, oft schon interpretierte (auch von Dylan selbst), nordenglische oder schottische Ballade "Barbara Allan" zitiert. Dort geht es um das gute alte Thema der nicht erwiderten Liebe und den zu früh gekommen Tod, in "Scarlet Town" geht es um alles.

Dylan entwirft ein Panorama, das Gemälde einer verrotteten, von Staub durchzogenen Stadt; eine Stadt, die überall existiert: Die Gauner und die Bettler treiben durch die Gassen, die Apokalypse steht hier jeden Tag vor der Tür. Man bekämpft seine Feinde im Alltag, man bekämpft nicht zuletzt immer wieder sich selbst, man kämpft mit Whiskey, mit Gin und Morphin. "In Scarlet Town the end is near". Alle hier sind gleichermaßen Helden und Verlierer und Verlorene. "I never set out to write politics. I didn"t want to be a political moralist", hat Dylan 2004 in einem Interview mit Rober Hilburn gesagt, "... There are many sides to us, and I wanted to follow them all." Ein Lied, das vor sich hin gleitet, sieben Minuten lang, ohne Refrain, ohne Höhepunkt, und bloß in einem ewigen, einem einlullenden Trott aus der Geschichte einer einzigen (fiktiven) Stadt ein ganzes Leben skizziert.