Erstellt am: 8. 9. 2012 - 15:53 Uhr
Fröhlich verträumte Welt
Berlin ist grau. Die Zeit der Open Airs am Nachmittag in Parks im Sonnenschein ist vorbei.
Soll mir auch recht sein, so kann man besser Energie sparen, die man in den künstlichen Nachtwelten dieser Stadt verprassen kann. Das Berlin Festival ist der Abschluss der Berlin Music Week am stillgelegten Flughafen Tempelhof. Es war der erste Flughafen Deutschlands, 1923 eröffnet und 2008 stillgelegt.
Der Eingang zum Festival gleicht einem Check in, durch die alte Abflughalle geht es hinaus aufs Rollfeld. Die vier Bühnen sind in ehemaligen Hangars untergebracht, also vor Regen sicher aber dennoch Open Air.
nataliebrunner
Ich wünschte, mein Architektur-geschulter Partner in Crime wäre hier, dann gäbe es motivierte und ausladende Vorträge über die Geschichte des Orts und den architektonischen Größenwahn der Nazis. So kann ich mich am Wasted German Youth-Design des Festivals erfreuen und frage mich, ob Paul Snowdens reduktionistische Brillanz angesichts von Waisted Youth Mistelbach T-Shirts jemals ihre Kraft verlieren wird.
nataliebrunner
Ich bin ein verwöhntes Betonpflänzchen, ich war noch nie campen , ich brauche urbane Infrastruktur, in regelmäßigen Abständen Zucker und Koffein, um nicht zu einer Belastung für meine Umwelt zu werden. Freunde rollen immer mit den Augen, wenn ich sage, ich fahre irgendwohin „Into the Wild“. Sie haben Angst , dass ich im Angesicht von Dixie Klos und Regen zu weinen beginne und sie Schadensbegrenzung machen müssen. Zum Berlin Festival aber kann ich mit der U-Bahn fahren, ich kriege jede Art von Nahrung, und sogar die Dixie Klos haben Papier.
Was aber viel wichtiger ist, ich mag die fröhliche Gelassenheit der Menschen, die auf dem Flugfeld bummeln und sich die Bands anhören. Es ist das entspannteste Festival, das ich kenne. Niemand drängelt , es gibt keine Engpässe, keinerlei Stress, sehr wenige und freundliche lächelnde Securities und niemand kotzt, pöbelt, greift mir auf den Arsch und rennt mit „bitte bitte ich will ficken“-Schild herum.
nataliebrunner
Das Brandt Brauer Frick Ensemble ist schwer im Einsatz. Sie spielen am Freitag um 2 Uhr das Eröffnungskonzert vor fast leerem Areal.
So richtig in Fahrt und gut gefüllt ist das ganze drei Stunden später, als Little Dragon auf der Hauptbühne spielen. Ihre Show ist für die Nacht konzipiert, Stroboskop kommt bei Tageslicht nicht allzu gut, aber der Charme und die Tänzchen der Little Dragon-Sängerin Yukimi Nagano retten das Ganze. Ihr großer Hit „Ritual Union“ ist die zweite Nummer, alle grinsen glücklich und obwohl 2012 niemand bei verträumtem, fröhlichem Elektronik-Pop vor Begeisterung zu hyperventlieren beginnen wird, haben Little Dragon die live-Kombination von Elektronik und Analog verdammt gut heraußen und holen die Menschen in null komma nix in ihre fröhlich verträumte Welt.
nataliebrunner
Kurz danach spielen We Have Band, die eigentlich auch We have Funk heißen könnten, auf der kleineren Hangar-Bühne. Ihre meisten Nummern sind wie Konversationen aufgebaut und die WHB-Mitglieder Darren Bancroft und das Ehepaar Thomas and Dede Wegg-Prosser teilen sich die Vocals. Das Set ist sehr Percussion-lastig und WHB haben ein Bühnen-Set Up, das mich die ganze Zeit an die Kills denken lässt.
nataliebrunner
Der Versuch, Grimes zu hören, ist gescheitert. Gesehen habe ich sie hinter dem Mischpult, aber gehört habe ich nichts. Albert Speer hat die Flugzeughallen nicht für den Elektronik Teenage Hexensabbath von Grimes konzipiert. Grimes hat begonnen, über einen Klangteppich aus ihrer eigenen Stimme Beats zu setzen und zu singen, aber leider: es ist alles im wattig undefinierbaren Klangbrei untergegangen. Ich bin die ganze Zeit in der Halle hin- und her gelaufen, um eine Stelle zu finden, wo es vielleicht doch ein bisschen besser klingt, aber keine Chance.
Trost fand ich dann beim Autodrom des Festivalgeländes.
Ein DJ mit großem Humor spielt zu den Zusammenstößen der Autodromwagen „Warm Leatherette“ von The Normal.
I wrestle with a headache
... that was spawned in hell by the devil himself...
Ich musste feststellen, dass die intellektualisierten Texte der großen Tocotronic keinen Platz mehr in meiner Welt haben und erfreute mich sehr daran, wie Ghostpoet seine Songs von Peanut Butter Blues & Melancholy Jam live mutieren lässt. Er perfomet die Nummer viel emotionaler als mit dieser resignativen Schicksalsergebenheit seiner Platte. Es ist ein mit rauher Stimme gefochtener Kampf mit inneren Dämonen, den man da auf der Bühne sieht:
I've kinda lost my throne
I'm absent from the scene,
I'm searchin' for a way in life
I'm lookin' for a theme
Ich habe vor kurzem wieder „Wild at Heart“ von David Lynch gesehen. An einem Punkt geht es darum, welchen Song der Protagonist Sailor der Frau seines Lebens spielen würde, um sein Wesen zu erklären. In seinem Fall ist es „Love me Ttnder“, in meinem Fall wäre es wohl „Cash and Carry me home“ von Ghostpoet.
nataliebrunner
Der Geist von David Lynch schwebt für mich auch über dem Rest dieses Abends. Nicolas Jaar macht fein abgestimmte Seelenmusik, die über dem Mullholland Drive erklingen könnte. Er spielt auf der gleichen Bühne wie Grimes, und wo zuvor nur ein Brei zu hören war, erkennt man jetzt feinste Nuancen. Wenn der Bass einsetzt, öffnet sich ein Raum, alle Hände gehen in die Höhe. Irgendwo in der Menge muss ein Verletzter stehen - ich sehe ihn während des ganzen Konzerte vor Begeisterung seine Krücken in der Luft schwingen. Ein Festival ist immer Reizüberflutung deluxe und ein Publikum mit etwas derart feinem total in den Bann zu schlagen, das ist große große Kunst. Ein bisschen geläutert harre ich Tag 2.