Erstellt am: 23. 9. 2012 - 10:16 Uhr
Walter
marc carnal
Marc Carnal, der schönste Mann von Wien, sammelt seit geraumer Zeit Einkaufslisten.
Unterstützt wird er dabei von einem stetig wachsenden Kreis an redlichen Helfern, die ihn regelmäßig mit am Wegesrand oder in Supermärkten aufgelesenen Zettelchen beliefern, auf denen Fremde seltsame, amüsante, wirre, ungesunde oder fragwürdige Gedankenstützen notiert haben.
Zu diesen teils zauberhaften Stichwortsammlungen verfasst Herr Carnal dann Texte und trägt diese zwischendurch auch öffentlich vor.
Lesungstermine erfährt man verlässlich, wenn man Eier, Butter, Bier auf Facebook befürwortet.
marc carnal
Der Kassier jenes Supermarkts, in dem ich lange Zeit regelmäßig einkaufte, heißt Walter. Das weiß ich nicht, weil ich privat mit ihm Umgang pflege, sondern weil ein an seiner Supermarkt-Uniform befestigtes Schild seinen Vornamen verrät.
Walter sieht aus wie ein Gnom aus einer dieser tschechischen Märchenverfilmungen, die ich mir regelmäßig nicht ansehe. Seine Stimme gleicht verdächtig jener, welche in Gefährten der Wiener Linien die nächste Station ankündigt.
Da könnte ich doch eigentlich von meinem schönen Durchsagen-Spiel erzählen: Als Spiel ist es eigentlich überdefiniert. Für zwischenzeitliche Kurzweile ist es aber durchaus tauglich. Wichtig dafür ist einerseits, eine gewisse Erfahrung im öffentlichen Verkehr vorweisen zu können und andererseits ein Gehör, das feine Nuancen in der Stimme wahrnimmt.
Ausgangspunkt war einst die Überlegung, dass die Durchsagen vermutlich an einem einzigen Tag von dem Sprecher mit der unangenehm nasalen Stimme aufgenommen wurden.
Dafür, dass der unbekannte Herr durch seine Stimmspende das Risiko einging, hinkünftig immer wieder akustisch erkannt zu werden - "Sind Sie nicht der Straßenbahnsprecher? Sagen Sie doch einmal Praterstern!" - wurde er bestimmt üppiger bezahlt als manch anderer für einen Tag Leistung. Motiviert bis in die Kniekehlen wird er also frühmorgens sein Werk begonnen und einen Stationsnamen nach dem anderen ins Mikrofon gesprochen haben. Den einen oder anderen musste er wohl wiederholen, aber bestimmt klappten nicht wenige Aufnahmen auf Anhieb, denn so viel kann man bei einem Wort nun auch nicht falsch machen.
Das Spiel besteht nun im Wesentlichen daraus, zu erraten, ob die jeweilige Durchsage frühmorgens, eher um die Mittagszeit oder gegen Ende des Aufnahmetages produziert wurde. Nachdem ich mir damit bereits seit einigen Jahren so manche Fahrstrecke versüßen konnte und es nicht unwahrscheinlich ist, dass die Teilnehmerzahl an diesem nicht dotierten Quiz auch weltweit überschaubar ist (wahrscheinlich bin ich sogar Erfinder und einziger Teilnehmer in Personalunion), behaupte ich wohl zu Recht, der kompetenteste lebende Experte auf diesem Gebiet zu sein. Nach intensiver Auseinandersetzung mit der Materie glaube ich, den Aufnahmezeitpunkt der meisten Durchsagen ziemlich treffsicher bestimmen zu können. Der einzige Anhaltspunkt ist die Stimmfarbe. Da manchmal Linien erweitert werden oder neue dazu kommen, sind auch von Zeit zu Zeit aktuelle Aufnahmen desselben Sprechers zu hören. Da es sich dabei aber immer nur um eine Handvoll handelt, meine ich davon ableiten zu können, wie ein frischer, geistesgegenwärtiger, rassiger, vor Regsamkeit und Arbeitseifer schier berstender Ansager klingt. Andererseits sind mir schon diverse leidenschaftslose, fahle und blutleere Ansagen ins Ohr gesprungen, die betreffend Diktion und Inbrunst erstere fast schon konterkarieren. Von diesen beiden Extremen ausgehend habe ich mit der Zeit eine innere Skala ertüftelt, die ich bei der Inanspruchnahme von Linien, die ich sonst nie oder selten benutze, in Sekundenbruchteilen abrufen und so die bisher unbekannten Ansagen prompt in Aufnahmetageszeitpunkte einteilen kann.
Ich bin mir sicher, nie um mehr als eine Stunde danebenzuliegen. Meine Fähigkeit televisionär in Form einer Wette vor einem Millionenpublikum unter Beweis zu stellen, lehne ich allerdings nicht nur aus anerzogener Zurückhaltung und Stilbewusstsein ab, sondern auch, weil meine Spekulationen kaum zu überprüfen wären. Es ist ja auch nichts weiter als ein kleines Nebenbei-Privat-Pläsierchen, für das nicht ganz zu Unrecht noch keine Vereine und Meisterschaften existieren. Und es ist gleichwohl kein Talent, das beim Balzen Entscheidendes bewirkt oder mir Sympathiewerte bei Walter bescheren würde.
marc carnal
Walter ist zu jedem Kunden freundlich, nur nicht zu mir. Mit seiner entsetzlichen Stimme fragt er jeden sehr laut und bestimmt: "KLUBKARTE?". Mit dieser Karte sind ausgewiesene Produkte verbilligt. Nun sind die meisten Kunden von Walters barschen Befehlen so beeindruckt, dass sie immer ihre Scheiß-Klubkarte vorweisen. Auch ich mache das manchmal, aber eben nur, wenn ich Artikel aufs Förderband lege, die vergünstigt sind.
Während ich eine Koryphäe auf dem Gebiet der Straßenbahn-Durchsagen bin, hat Walter die beeindruckende Inselbegabung, sich bei jedem Kunden zu merken, ob er eine Klubkarte besitzt oder nicht. Wenn ich ihm nun meine sieben Zwetschgen, die ich natürlich vorher abgewogen habe, vor den Latz knalle, damit er sie gefälligst über seine piepsende Scann-Scheibe zieht, er mir natürlich ein fragendes "KLUBKARTE?" entgegenbrüllt und ich dann in meiner gewohnt pfundigen Art "Nein" antworte, folgt ein zwar nur kurzer, aber umso verächtlicherer Blick, der mir sämtliche Geschlechtskrankheiten wünscht und sagt: "Ich weiß GENAU, dass du eine Klubkarte hast, du Hurenrotz!"
Doch ich bleibe standhaft.
Einmal war ich besonders wild.
Walter: "KLUBKARTE?"
Ich: "Ja."
Er wartete. Ich zeigte sie aber nicht her. Kurz schien Walter zu überlegen, ob eine Inhaftierung wegen schwerer Körperverletzung nicht ein wohltuendes Kontrastprogramm zum Sklavendienst beim Nahversorger wäre. "Einen schönen Tag noch", sagte er und meinte es ironisch. "Eins zu null für mich, du degenerierter Rewe-Sklave!", sagte ich natürlich nicht.
Dann kam ein Dilemma. Die Walter beschäftigende Kette ersann den Schmäh, Kinder mit der regelmäßigen Ausgabe von Abziehbildern zu ködern. Walter musste also "Sammeln Sie Sticker?" in sein Repertoire aufnehmen, was in seinem persönlichen Remix bald zu "Sticker sammeln Sie?" variiert wurde. Ungeachtet der Wortstellung verneinte ich natürlich stets, bis mich eine Kollegin bat, für ihr der Klebesucht verfallenes Kind nach Möglichkeit ein Stickerbedürfnis vorzugaukeln.
Ich war gewillt, zu helfen. Nun konnte Walter aber ein zusätzliches Tool in sein Machtspiel einflechten: Die Sticker-Frage stellte er nur jenen Kunden, die fügsam ihre Klubkarte vorwiesen. Eine Zwickmühle!
Meine Lösung bestand darin, die Methode des mir unbekannten Kindes zu kopieren und ein Netzwerk an Schergen zu rekrutieren, die für mich die begehrten Aufkleber sammeln sollten, die ich wiederum an die Kindesmutter weiterreichte.
Weil ein mir unbekanntes Balg den Reizen der kapitalistischen Kundenanbindungs-Strategien erlegen war, installierte ich also ein Schneeballsystem, dessen es ohne meine Beharrlichkeit im kalten Krieg gegen Walter gar nicht bedurft hätte.
Nach einigen Wochen hatte das Kind sein Album voll. Der Kampf gegen Walter war um eine spannende Facette ärmer und wurde mir langsam einerlei. Wohl auch ihm - bei meinen letzten Einkäufen verzichtete er bisweilen gar auf die Frage nach der Klubkarte und ich gab sie ihm trotzdem.
Die Luft war draußen.
marc carnal
Ich wechselte den Supermarkt und kämpfe nun gegen einen Kassa-Kapazunder, der das Wechselgeld immer schon heraussucht, bevor man ihm einen Schein überreicht hat, der seiner Kundschaft also nicht zutraut, den genauen Betrag in angemessenem Tempo aus dem Portemonnaie zu fischen. Ich stelle mich aber täglich der Herausforderung, indem ich heimlich die Preise schon vorher addiere und ihn mit centgenauen Zahlungen überrasche. Walter habe ich schon halb vergessen.
Obendrein suchen die Wiener Linien nach Jahrzehnten gerade nach weiblichem Ersatz für den gewohnten Durchsagen-Sprecher.
Das Leben ist ein reißender Strom des Wandels. Der Niederschlag von morgen wird bald der Schnee von gestern sein. Panta rhei. Und jetzt neu für alle Klubkartenbesitzer: Panta rhei in der Tube.