Erstellt am: 28. 8. 2012 - 12:14 Uhr
Keine Zeit
Er vermisst nicht die Welt, der Martin Suter, aber zunächst mal den Gustav-Rautner-Weg. Und den ziemlich genau. So genau, dass mein Hirn, das sich sonst kein Fitzerl Suter je entgehen lassen wollte, die Augen zum Querlesen drängt. Ich schreite ein und bremse das ungeduldige Hirn. Wird schon einen Grund haben, warum hier Gärten, Fassaden, Fenster, Dächer und Astverläufe so genau beschrieben werden. Wir folgen Peter Talers Blick aus dem Fenster und interessant ist das hauptsächlich deswegen, weil den Beschreibungen ein Suspense versprechender Satz vorausgeht, der "Die Zeit, die Zeit" eröffnet. "Etwas war anders, aber er wusste nicht was".
Time is on my side
Man liest also genau mit und sucht sie auch, diese Irritation, während im Hintergrund der angenehme Krimigrusel um ein unaufgeklärtes Verbrechen wabert. Talers Frau wurde vor knapp einem Jahr vor der Haustüre erschossen. Aufgeklärt wurde das Verbrechen nie. Noch schlanker als sonst flicht Suter hier seinen Plot. Personen- und schauplatztechnisch. Die so genau beschriebene Straße wird man im Laufe des Romans nicht allzu oft verlassen, zunächst überqueren wir sie mit Taler gemeinsam und lernen Knupp kennen. Taler beobachtet den pensionierten Lehrer von gegenüber mit Argwohn. Und bemerkt, dass er unter Knupps Beobachtung steht. Der kauzige, alte Mann mit den schwarz gefärbten Haaren unterbreitet Taler schließlich eine bizarre Theorie über die Zeit. Die nämlich würde gar nicht existieren. Nur Veränderungen wie wachsende Apfelbäume und Falten im Gesicht würden uns das glauben machen. Würde man diese Veränderungen rückgängig machen und einen bestimmten Tag aus der Vergangenheit, an dem Knupps Frau Martha noch gelebt hat, so genau wie möglich rekonstruieren, dann würde auch Martha wieder leben.
Wie Henry Fonda
Ohne Fluxkompensator und Wurmlöcher wagt sich Suter an ein Zeitüberlistungsexperiment. Science Fiction gibt es hier nicht, es ist eine pragmatisch-schweizerische Herangehensweise. Äste schneiden, Pflanzen in der richtigen Größe wie damals finden, Haare färben, Botox spritzen. Suters nüchterne Sprache hilft dabei, dass man sich auf das metaphysische Experiment einlässt. Taler ist eine klassische nicht-exzentrische Suter-Figur, deren Leben aus der Bahn läuft. Bei ihm geht es immer um die Frage, wie weit man gehen kann, moralisch und kriminell. Taler ist weniger einnehmend oder gar sympathisch als Fabio Rossi, der Journalist mit Amnesie aus "Ein perfekter Freund", die von Flashbacks gebeutelte Physiotherapeutin Sonia in "Der Teufel von Mailand" oder auch der Lebemann mit dem Pleitegeier auf der Schulter aus der "Allmen"-Reihe.
Das ist aber Kalkül und nicht schwindende Schreibeskunst Suters. Man ist auf Distanz und wird - nach Taler und Knupp - zum dritten Beobachter, der ebenfalls misstrauisch beäugt, was hier vor sich geht - angetrieben von der klassischen Spannung eines whodunit. Suter, der sonst stets einen Absatz zur Physiognomie einer Figur parat hat, hält sich nicht einmal damit auf, Talers Aussehen detailliert zu beschreiben. Eine Ähnlichkeit zu Henry Fonda wird erwähnt, der Henry Fonda, der für Gerechtigkeit im amerikanischen Kino steht. Am Ende des Romans ergibt auch das Fonda-Namedropping einen Sinn.
mgm
Verlust und Trauer
Nicht zu viel hineininterpretieren soll man in den Namen, der sich zu Beginn des Buches findet. Für Toni steht da, Suters 3-jähriger Sohn ist 2009 gestorben. Zwar räumt der Autor in Interviews ein, dass die Themen Tod und Verlust sicherlich dadurch präsenter waren und er deswegen einen Roman geschrieben hat, in dem versucht wird, die Zeit zu überlisten und einen Tod rückgängig zu machen. "Aber das Buch ist um Himmels willen keine Form von Aufarbeitung", so Suter im Interview. Die Zeit heilt ganz und gar nicht alle Wunden und so kann man sie gleich abschaffen, austricksen, leugnen.
Diogenes
Martin Suter: "Die Zeit, die Zeit" ist im Diogenes Verlag erschienen
Leugnen lässt sich aber nicht, dass etwas anders als in seinen anderen Romanen ist bei "Die Zeit, die Zeit". Mir geht es wie Taler, es gibt eine Irritation, die sich klar zu erkennen gibt, wenn sich die Schlankheit des Plots als Schneckenhaus entpuppt. Suter kapselt die Geschichte um Taler, Knupp und ihren Plan von der Abschaffung der Zeit zu sehr ab. Der Schriftsteller, der mit seinen einfachen, kurzen Sätzen Suspense kreieren kann und der sich als routinierter Geschichtenkonstrukteur bewiesen hat, verzichtet hier auf seine gesellschaftlichen Beobachtungen. Auf seine kleinen, aber gezielten Hiebe in Richtung Schweizer Upper Class, Kunst- oder Wirtschaftswelt. Außer der Existenz von Computern und Software (und Autonamen-Namedropping) fehlt die Verankerung der an sich spannenden Geschichte im Hier und Jetzt. Selbst die Schilderungen von Talers Büroalltag gehen über unangenehme Chefs und vielplappernde Kolleginnen nicht hinaus, Suters Blick bleibt in der Kapsel und im Gustav-Rautner-Weg. "Die Zeit, die Zeit" könnte überall spielen - und zu jeder Zeit, aber vielleicht ist das für einen Roman, der sich um die Leugnung der Zeit dreht, nur konsequent.
Die Sache mit dem Dünkel
Was man hoffentlich irgendwann einfacher abschaffen kann als die Zeit, ist der Dünkel, der in der deutschen Literaturkritik so oft mitschwingt. Ist keine große Literatur steht da oft über Suter zu lesen, spannend sei es aber schon und Spaß machen würde es auch. Die Vermessung von Geschriebenem mit dem E- und U-Lineal ist hanebüchen und überholt. Genauso wie ich den Begriff des guilty pleasure nicht ausstehen kann, der mit dem so schlecht, dass es wieder gut ist Hand in Hand geht, finde ich den Ansatz, einen Roman immer mit dem theoretischen Nonplusultra der Literaturgeschichte zu vergleichen, sinnlos und uninteressant. Wenn der Schweizer Tagesanzeiger dann die von "Die Zeit" und "Der Spiegel" begonnene Diskussion über Suters Schreibstil aufgreift, stellt er die Frage, ob Suter eher "Goethe oder Konsalik" ist. Nun, ja, da war doch irgendwas mit zwischen Himmel und Erde und der Schulweisheit.