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Robert Glashüttner

Videospielkultur, digital geprägte Lebenswelten.

29. 8. 2012 - 20:37

Mut zur Zweckentfremdung

Die Bewegungstechnologie Kinect kann viel mehr als nur Videospiele steuern.

Über eineinhalb Jahre ist es her, dass die Bewegungssteuerung Microsoft Kinect erschienen ist. Zuerst war es nicht mehr als aufwändiges Zubehör für die schon damals leicht angegraute Spielkonsole Xbox 360. Dank Kinect konnte man nicht mehr nur mit dem üblichen Spiel-Controller in der Hand Games steuern, sondern auch mit Gesten und Körperbewegungen.

Schon wenige Tage nach Markteinführung wurde Kinect aber nicht mehr nur zum Spielen verwendet, sondern wurde zum neuen Spielzeug für Bastler, Hacker und Wissenschafter, die wussten, dass das volle Potenzial von Kinect bestimmt nicht nur in der Gestensteuerung von Videospielen liegen würde. Waren es Ende 2010 nur kleine Tech-Demos, die durch Neugierde, Experimentierfreudigkeit und Spaß an der Zweckentfremdung entwickelt worden sind, kann man via Kinect heute Cartoons gestalten, im OP-Saal wertvolle Zeit sparen oder intelligente Einkaufslösungen für den Handel entwickeln.

Ein Monitor zeigt einen Online-Schuh-Shop an, darüber ist ein Kinect-Gerät montiert.

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Am Anfang war Microsoft von den vielen Hacks und Basteleien noch überfordert, die findige Entwickler schon wenige Wochen nach Verkaufsstart erschaffen hatten. Einer der ersten war Martin Kaltenbrunner,, Professor für Interface Design an der Kunstuni Linz. Er hat im Dezember 2010 zwei Videos zu seinem Hack online gestellt. Der Name: Therenect. Kaltenbrunner hat Kinect kurzerhand zu einem Theremin umfunktioniert - also zu einem Instrument, das man nur mit Handbewegungen bedient.

"Electric Eye" für den guten Zweck

"Therenect" war eine der ersten von vielen weiteren Ideen und Zweckentfremdungen, die innerhalb der nächsten eineinhalb Jahre folgen sollten. Nach einiger Zeit des stillen Zusehens hat Microsoft schließlich auf die rege Entwicklung der inoffiziellen Modifikationen reagiert. Seit Anfang des Jahres bestärkt der IT-Konzern mit einem eigenen (kostengünstigen) Software-Entwicklungs-Kit alle Interessierten auch offiziell, Kinect für unterschiedliche Bereiche zu adaptieren. Zusätzlich dazu wurde ein internationaler Wettbewerb namens "Kinect Accelerator" ausgeschrieben. Jungunternehmer/innen waren dabei aufgefordert, ihre Innovationen und Ideen einzuschicken, die mit der Hilfe von Kinect umsetzbar sind.

Aus über 500 Einreichungen sind elf Projekte ins Finale gekommen und wurden drei Monate lang im Microsoft-Headquarter in Seattle einem Stresstest unterzogen. Die Belohnung: Professionelle Beratung von IT- und Businessexperten sowie das Bekanntmachen mit Investoren. Eines der besonders herausragenden Startups innerhalb der elf Finalisten ist Übi Interactive aus München. Das dazugehörige Konzept ist so revolutionär, dass selbst Auskenner zuerst nicht geglaubt haben, dass so etwas jemals funktionieren würde: Aus jeder beliebigen Oberfläche einen Touchscreen zu machen. Alles, was es dafür braucht: einen Projektor, Kinect und die Software von Übi.

David Hajizadeh von Übi Interactive zeigt die Technologie der Firma an einer Glasplatte vor, auf die vom Computer aus projiziert wird.

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Mehr im Unterhaltungsbereich, aber abseits von Videospielen, ist das Projekt "Freak'n Genius" angesiedelt. Es ist ein Animationsprogramm, wo man mittels Kinect mit dem eigenen Körper Bewegungen aufnimmt, die dann diversen Figuren und Bildern zugewiesen werden.

Clayton Weller trägt einen weißen Kittel und zeigt Freak'n Genius vor.

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Die Software "GestSure" wiederum hat einen seriöseren Hintergrund. Sie befähigt Chirurgen, im OP-Saal mit Gesten Informationen am Computer nachzuschlagen, ohne die sterile Umgebung verlassen zu müssen und dadurch wertvolle und möglicherweise lebenswichtige Zeit zu verlieren.

Ein OP-Tisch, davor eine Person, die eine Geste macht, dahinter ein Computer und Kinect, die die Geste wahrnehmen und verarbeiten.

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Doch egal ob Büroarbeit, Unterhaltung oder Medizin: eine Idee kann noch so gut und die Teammitglieder eines Startup-Unternehmens noch so motiviert sein - ohne Fachexpertise und Geschäftskontakte kommt selten etwas ins Laufen. Microsoft hat den elf ausgewählten Finalisten-Teams aus dem "Kinect Accelerator"-Programm genau das geboten: Zugang zu einem großen Personennetzwerk und einen ausgiebigen Blick hinter die Kulissen der IT-Industrie. Die drei Seattle-Monate waren für die Teams demenstprechend geprägt von viel Lernen, viel Arbeit und gegenseitiger Motivation. Clayton Weller vom Team "Freak'n Genius" (siehe weiter oben) etwa erinnert sich an einige Arbeitstage, die bis spät in die Nacht gereicht haben.

Chancen für die einen, Coolness für die anderen

Jede und jeder aus den elf Finalisten-Teams schwärmt von den Möglichkeiten und Chancen, die ihnen die zwölf Wochen im Microsoft Headquarter geboten hätten. Tatsächlich ist es eine Win-Win-Situation für beide Beteiligten: die jungen Unternehmen werden gut auf den hart umkämpften IT-Markt vorbereitet. Microsoft wiederum lotet das hohe Potential seiner Bewegungstechnologie Kinect aus, kann sich damit schmücken, Innovation in unterschiedlichen Anwendungsgebieten zu fördern und nutzt den Wettbewerb, um dem eigenen Image vom spröden Business-Riesen entgegenzuwirken.

Clayton Weller: "They want - for lack of a better word - to be cool. And that's what startups do really well: There are five cool guys working in the basement, wearing T-shirts and making silly cartoons! That is something that Microsoft is trying to reach out to. They're seeing that it is good having this fun, scrappy and quick feel to it."